03. Geburtskulturen im Wandel – Bewegungen von unten
Inhalte des Moduls:
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Modul 03 thematisiert Prozesse des Aufbruchs, Widerstandes und der Ermächtigung als Bewegungen von unten. Die Module 01-03 stehen in einem engen inhaltlichen Zusammenhang. Sie bilden verschiedene Ebenen der Politik der Geburt ab, indem sie themenspezifisch auf Machtstrukturen verweisen. |
Die Frauengesundheitsbewegung der 1970er und 1980er Jahre
Ab Anfang der 1970er Jahre entwickelt sich in Deutschland – inspiriert von der US-amerikanischen Frauengesundheitsbewegung – eine kraftvolle Bewegung von Frauen für das Recht auf Selbstbestimmung über den eigenen Körper. Unter der Parole: „Mein Bauch gehört mir“ forderten Frauen das Recht auf einen straffreien Schwangerschaftsabbruch, der in Deutschland seit 1871 unter Strafe steht. Ziel der Bewegung war es, Frauen zu ermächtigen, selbst Expertin für den eigenen Körper zu werden und Verantwortung für sich selbst zu übernehmen.
Our Bodies, Ourselves – Inspiration und Ermächtigung
Ein Meilenstein der Frauengesundheitsbewegung war der Bestseller „Our Bodies, Ourselves“, herausgegeben 1970 vom Boston Women’s Health Book Collective. In Deutschland erschien das Buch 1978 unter dem Titel „Unser Körper, unser Leben“. Dieses wegweisende Sachbuch für sexuelle Gesundheit und Selbstbestimmung, wandte sich gegen patriarchale und autoritäre Strukturen in der Medizin mit dem Ziel, das Selbstbewusstsein und die Selbstbestimmung von Frauen zu stärken und eine bessere Gesundheitsversorgung zu ermöglichen. Das Buch bot umfassende Aufklärung und Informationen über die Anatomie und Physiologie des weiblichen Körpers, Empfängnisverhütung, Schwangerschaftsabbruch, Schwangerschaft und Geburt. Für eine Generation von Frauen war „Our Bodies, Ourselves“, vom Time Magazine als eine „Bibel der Frauengesundheit“ bezeichnet, eine wegweisende Quelle der Inspiration und Ermächtigung. Es markiert auch den Beginn einer Bewegung für die Entmedikalisierung und Humanisierung der Geburtshilfe.
Krankheit Frau
Die Frauengesundheitsbewegung stellte sich entschieden gegen die Pathologisierung und Medikalisierung des weiblichen Körpers, insbesondere im Zusammenhang mit Schwangerschaft und Geburt. Sie bezog sich auf eine feministisch ausgerichtete Sozial- und Geschichtswissenschaft. Dabei ging es auch um die Analyse einer jahrhundertealten männlichen Sichtweise, die den weiblichen Körper als „von Natur aus“ schwächer und anfälliger betrachtete – als defizitär und behandlungsbedürftig. Insbesondere die Gebärmutter galt seit der Antike als Ursache dieser dem Frauenkörper zugeschriebenen spezifisch labilen Disposition und wurde mit zahlreichen Krankheiten in Verbindung gebracht – ein Denken, das sich eindrücklich in der Geschichte der „Hysterie“ (griechisch: hystera – Gebärmutter) widerspiegelt. Über Jahrhunderte – von der griechischen Antike bis zu grausamen Behandlungen im 19. Jahrhundert – wurden Frauen unter dieser Diagnose im Namen der Medizin pathologisiert und misshandelt, wenn ihr Verhalten nicht den gesellschaftlichen Normen entsprach. Das Organ, das als Symbol für das weibliche Potenzial stehen könnte, galt als Ursache jedweder weiblichen Schwäche. Die Psychiaterin und Medizinhistorikerin Esther Fischer-Homberger beschrieb diese Sichtweise als „Krankheit Frau“ (1979) – ein Begriff, der die tief verwurzelte, medizinisch legitimierte Unterdrückung von Frauen auf den Punkt bringt.
In den 1970/80er Jahren vertrat eine männlich dominierte Gynäkologie die Ansicht, dass Frauen nach abgeschlossenener Familienplanung keine Gebärmutter mehr benötigen. Massenhaft wurden in dieser Zeit Gebärmütterentfernungen ohne fundierte medizinische Indikation durchgeführt – oft mit gravierenden körperlichen und psychischen Folgen für die betroffenen Frauen. Die Gynäkologin Barbara Ehret prangerte dies öffentlich an und übte scharfe Kritik an ihren Kollegen für dieses Vorgehen. Sie wurde dafür nicht nur heftig angegriffen, sondern auch in einem Standesverfahren zu einer Geldstrafe verurteilt (Schindele, 2024). Wie tief der defizitorientierte Blick auf den weiblichen Körper bis heute die medizinische Versorgung prägt, zeigt sich nicht nur in der Pathologisierung und Medikalisierung von Schwangerschaft und Geburt, sondern auch in der Wahrnehmung der Wechseljahre als defizitärer Lebensphase, in der Frauen bis heute ohne valide medizinische Indikation Hormone verschrieben werden, die nicht frei von Risiken für ihre Gesundheit sind.
Expertinnen des eigenen Körpers – Aufbruch und Selbstermächtigung
Ein zentraler Ansatz der Frauenzentren, die sich seit den frühen 1970er Jahren auch in Deutschland gründeten, war es, Frauen durch Wissen und Austausch zu ermächtigen, selbstbewusst über ihre Gesundheit zu entscheiden. Unter der Maxime „Das Private ist politisch“ tauschten sich Frauen in Selbsterfahrungs- und Selbsthilfegruppen über ihre Körper- und Lebenserfahrungen aus, sammelten ermächtigendes Wissen und gaben es weiter. Indem sie das körperliche und psychische Erleben von Frauen in einen größeren gesellschaftlichen Kontext stellten, machten sie die strukturelle Diskriminierung sichtbar.
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„Das Private ist politisch – Ulrike Hauffe“ Ulrike Hauffe erzählt von ihrer Politisierung in den 1970er Jahren – wie sie als schwangere Frau den Umgang der Medizin mit ihrem Körper erlebte, wie Frauen sich dagegen wehrten und sich für ihre eigenen Interessen einsetzen. (18:12 min) Download Video |
Mit ihrem ganzheitlichen Ansatz stellte sich die Frauengesundheitsbewegung entschieden gegen die Pathologisierung der Weiblichkeit (Stolzenberg, 2000). Demgegenüber stellte sie ihren Blick auf den Frauenkörper als kraftvoll und mit großem Potenzial ausgestattet und einem selbstverständlichen Recht auf Selbstbestimmung.
Frauengesundheit in eigener Hand – Frauengesundheitszentren
Zentrale Themen der Frauengesundheitsbewegung waren zunächst Schwangerschaftsabbruch, Empfängnisverhütung und Sexualität. Inspiriert von der US-amerikanischen Aktivistin Carol Downer, die 1973 im Berliner Frauenzentrum vor 400 Frauen ihre Methode der Selbstuntersuchung vorgestellt hatte, begannen die sich gründenden Frauengesundheitszentren in Deutschland, Selbstuntersuchungsgruppen anzubieten. Ihr Ziel war es, Frauen zu Expertinnen des eigenen Körpers zu machen. In diesen Gruppen eigneten sich Frauen medizinisches Fachwissen an, entdeckten traditionelle Methoden der Behandlung und Empfängnisverhütung neu und tauschten sich über Themen körperlicher und psychischer Gesundheit aus. Die Frauengesundheitszentren organisierten auch Fahrten in die Niederlande, um Frauen den Zugang zum Schwangerschaftsabbruch zu ermöglichen, der damals in Deutschland illegal war.
Die Gründerinnen der Frauengesundheitszentren kamen aus der Frauenbewegung und der Frauengesundheitsbewegung. Das erste Frauengesundheitszentrum (FFGZ) wurde 1974 in Berlin gegründet war auch das erste FFGZ in Europa. Es war auch das erste FFGZ in Europa und existiert bis heute. Informations- und Beratungsangebote und Selbsthilfegruppen um Schwangerschaft und Geburt gab in den Anfängen der Frauengesundheitsbewegung teilweise auch in den Frauenzentren. Die vom FFGZ Berlin herausgegebene Zeitschrift für Frauengesundheit Clio gibt es seit 45 Jahren. Unabhängigkeit, Parteilichkeit für Frauen und eine Brücke zur Selbsthilfe zu sein, sind wesentliche Säulen der Philosophie der Frauengesundheitszentren (Burgert et al., 2014), deren Existenz aufgrund unzureichender finanzieller Förderung immer wieder bedroht ist. Heute gibt es in Deutschland noch 12 Frauengesundheitszentren, einige von ihnen sind Frauen- und Mädchengesundheitszentren (Ullrich, 2021). In den Anfängen bestimmten vor allem Themen wie Selbsterfahrung, Zyklus und Menstruation, Schwangerschaftsabbruch und Verhütung das Angebot. Über die Jahrzehnte hat sich ein breites Spektrum entwickelt. Informations- und Beratungsangebote und Selbsthilfegruppen um Schwangerschaft und Geburt gab es in den Anfängen der Frauengesundheitsbewegung teilweise auch in den Frauenzentren. Später gründeten sich eigene Beratungsstellen oder es entstanden Vernetzungen mit anderen Institutionen.
Geburtskulturen im Wandel – Bewegungen unten und Pionier*innen
Nach dem Zweiten Weltkrieg und der Reorganisation des deutschen Gesundheitssystems nach amerikanischem Vorbild kommt es zu einem tiefgreifenden Wandel in der Geburtshilfe: Geburten verlagern sich zunehmend in die Kliniken. Es galt als fortschrittlich, sein Kind nicht mehr zu Hause, sondern in der Klinik zu bekommen. Während in den 1950er Jahren noch etwa 50 % aller Frauen ihr Kind zu Hause bekamen, sank diese Zahl in den folgenden Jahrzehnten rapide, bis die Geburt 1979 mit 99 % fast ausschließlich hospitalisiert war (Schumann, 2006).
Die Geburtskultur der 1970er Jahre
Die Geburtshilfe der 1970er Jahre war geprägt durch eine technikorientierte, stark intervenierende Praxis, die mit der Programmierten Geburt, ihren Höhepunkt erreichte. Die Idee, die Geburt zu programmieren, die damals als Lehrmeinung galt (Mutke, 1977), basierte auf Konzepten der Planung und Prophylaxe von Notfällen aus der Luft- und Raumfahrt und zielte darauf ab, den Geburtsprozess vollständig zu kontrollieren. Die Programmierte Geburt startete am „optimalen“ Termin mit vorbereitenden Maßnahmen wie Einlauf, Rasur und einem Reinigungsbad. Die eigentliche Einleitung der Geburt begann mit einer wehenfördernden Infusion („Wehentropf“), gefolgt von weiteren Maßnahmen wie dem Öffnen der Fruchtblase und dem Anlegen einer Periduralanästhesie zur Schmerzbekämpfung. Häufig endete die Geburt vaginal-operativ durch Anwendung einer Saugglocke oder Zange sowie einem routinemäßigen Dammschnitt (David & Ebert, 2000). Nach der Geburt wurden Mutter und Kind getrennt: Das Neugeborene kam zur Überwachung ins Säuglingszimmer und wurde unabhängig von seinen Bedürfnissen alle vier Stunden zum Stillen gebracht. Weder Bonding noch das frühe Stillen wurden gefördert. Evidenzen zu dieser Art Geburtshilfe lagen nicht vor. Dennoch prägt ein aktives Management an vielen Kliniken die Geburtshilfe bis heute.
Geburt wurde nicht mehr als jeweils einzigartiges Zusammenspiel zweier individueller Körper mit ihrem jeweils eigenen Rhythmus verstanden. Stattdessen galt sie als potenzielles Risiko, das besser durch medizinische Interventionen zu steuern sei, als es dem körpereigenen Prozess zu überlassen. Das Ideal war nun die Standardgeburt (Duden & Vogeler 2019) – ein normierter Verlauf, in dem Abweichungen als pathologisch galten und Eingriffe als notwendig erachtet wurden. Nicht Abwarten und Geschehenlassen, sondern Intervention und Steuern des Geburtsprozesses galten als medizinischer Standard. Dass die zahlreichen, nicht indizierten Interventionen die Komplikationen erst erzeugten, die dann weiter Interventionen erforderten, war vielen Fachkräften vermutlich nicht bewusst. Auch dieser Vorgehensweise liegt die Vorstellung eines defizitären weiblichen Körpers zugrunde, der optimiert werden müsse. Es ist davon auszugehen, dass viele Frauen durch die Programmierte Geburt und die damit verbundenen Maßnahmen traumatisiert wurden, dass damals jedoch kaum darüber gesprochen wurde, weil diese Erfahrungen für viele als „normal“ hingenommen wurden. Außerdem gab es noch keine feststehenden Begriffe wie „Gewalt unter der Geburt“ und bei den Fachkräften in der Regel kaum Bewusstsein darüber. Das änderte sich erst durch die Kritik der Geburtsaktivist*innen und die Frauengesundheitsbewegung die diese Realität als frauenfeindlich und gewaltvoll erkannte und Frauen ermächtigte sich ihr entgegenzustellen.
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Erfahrungen und Aufbruch Elisabeth Geisel erzählt, wie die Erfahrungen der Geburt ihres ersten Kindes ihr Leben veränderten, wie sie diese Erfahrungen verarbeitete, Geburtsvorbereiterin wurde und sich als Aktivistin europaweit engagierte. (9:03 min) Download Video |
Schwangerschaft und Geburt als kraftvolle Erfahrung
In den Frauenzentren der 1970er Jahre entstanden bald nach den Selbsthilfegruppen zum Schwangerschaftsabbruch auch Beratungsangebote zu Schwangerschaft und Geburt. Schließlich wollten nicht alle Frauen einen Abbruch ihrer Schwangerschaft, auch wenn zu dieser Zeit in feministischen Kreisen die Entscheidung für ein Kind kritisch betrachtet wurde und im Verdacht der Rückkehr zur traditionellen Frauenrolle stand. Eine neue Bewegung für eine natürliche und selbstbestimmte Geburt wandte sich gegen die Technisierung und Pathologisierung der Geburt und die Praxis der Programmierten Geburt. Die Pionierinnen dieser Bewegung sahen Schwangerschaft und Geburt als kraftvolle und stärkende Erfahrungen. Ihr Ziel war es, die Verantwortung für das eigene Wohl während Schwangerschaft und Geburt in die eigenen Hände zu nehmen, und sich in Gruppen gegenseitig zu unterstützen.
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Frauengesundheitsbewegung – Pionierin Juliane Beck berichtet über ihre Erfahrung in einer Frauenselbsthilfegruppe in den 1970er Jahren – über Frauen, die sich kritisch mit den medizinischen Praktiken in Gynäkologie und Geburtshilfe auseinandersetzten, sich gegenseitig unterstützt, informiert und bestärkt haben und was sie inspiriert hat. (8:28 min) Download Video |
In den Selbsthilfegruppen eigneten sich die Frauen „alternatives“ Fachwissen zu Schwangerschaft und Geburt an, das die herrschenden medizinischen Sichtweisen in Frage stellte und den Sinn von entmündigenden, verletzenden und den physiologischen Prozessen entgegen gesetzten Praktiken widerlegte – wie beispielsweise Geburtseinleitungen ohne Indikation, routinemäßige Dammschnitte, das Gebären in Rückenlage und die Trennung von Mutter und Kind nach der Geburt. Diese Erkenntnisse inspirierten viele Frauen, sich selbst zu ermächtigen und eine würdevolle und selbstbestimmte Geburt einzufordern.
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Diese Erfahrung hat mich ermächtigt Juliane Beck – Pionierin Juliane Beck erzählt von ihrer ersten Schwangerschaft in den 1970er Jahre, ihrer Entscheidung für eine Hausgeburt und wie diese Erfahrung sie geprägt hat. Auch ihr zweites und ihr drittes Kind wurde zu Hause geboren und immer waren es ganz unterschiedliche Erfahrungen. (13:13 min) Download Video |
Bücher wie: Geboren werden und gebären. Eine Streitschrift für die Neugestaltung von Schwangerschaft, Geburt und Mutterschaft (1976) von Eva Maria Stark revolutionierten das Verständnis von Geburt. Der Begriff „gebären“ betonte die aktive Rolle der Frau im Geburtsprozess und rief zu Selbstermächtigung und Eigenverantwortung für sich selbst und die Bedürfnisse des Kindes auf. Das Buch inspirierte Frauenselbsthilfegruppen zu Schwangerschaft und Geburtshilfe in Nürnberg, München und bundesweit, Informationen über aufgeschlossenen Gynäkolog*innen, über die geburtshilfliche Praxis von Kliniken vor Ort und Adressen von freiberuflichen Hebammen (z. B. Voget, 1981) zusammenzutragen und öffentlich zugänglich zu machen.
Bis zum Erscheinen von Our Bodies, ourselves (s.o.) fanden sich nicht Angst machende Berichte von Frauen über positiv erlebte, natürlich verlaufende Geburten nur im angloamerikanischen Raum. Nun wurden zunehmend ermutigende, authentische Geburtserfahrungen auch im deutschsprachigen Raum veröffentlicht, wie z.B. Erlebnis Geburt (Beck, & Weigert, 1981). Die neuen Erzählungen vermittelten ein vielfältiges Bild vom Geburtsgeschehen, sie waren positive Gegenbilder zu den oft angstbesetzten Geschichten der (eigenen) Mütter. Sie bestärkten Frauen, Vertrauen in ihren Körper zu entwickeln und selbstbestimmte Entscheidungen über den Geburtsort und ihre eigenen Vorstellungen zu treffen.
Von Pionierinnen zu Expertinnen und gesundheitspolitischen Akteurinnen
Die Geschichte der Frauengesundheitsbewegung zeigt eindrucksvoll, wie eine Graswurzelbewegung als Bewegung von unten durch Aneignung von Wissen und Selbstermächtigung Expertise erwirbt und alternative, für die eigenen Bedarfe passende Angebote entwickelt und etabliert. In einem Prozess der zunehmenden Professionalisierung entwickeln sich aus der Pionierarbeit – motiviert durch biografische Erfahrungen – neue, bedarfsgerechte Formate, die (Qualitäts-)Maßstäbe setzen, anerkannt und gefördert werden. Aus Pionierinnen werden Expertinnen mit einem professionellen Angebot, wie zum Beispiel bei der Entwicklung der Geburtsvorbereitung. Aus dem von Lai*innen zusammengetragenen vielfältigen Wissen, persönlichen Erfahrungen, internationaler Vernetzung und dem interdisziplinären Hintergrund der Aktivistinnen entwickelte sich ein Angebot, das die physischen, psychischen und sozialen Bedarfe von Frauen und Partner*innen in der Umbruchsphase von Schwangerschaft, Geburt und Elternwerden erstmals ganzheitlich adressierte. Das daraus entwickelte Weiterbildungsangebot für Kursleiter*innen wurde bundesweit anerkannt und gefördert. Die 1980 aus dieser Pionierinnenarbeit gegründete Gesellschaft für Geburtsvorbereitung (GfG e.V.) entwickelt sich bis heute weiter. Dass Frauengesundheit heute eine eigene Disziplin in der Gesundheitsversorgung ist, ist ein Verdienst der Frauengesundheitsbewegung (Hauffe, 2016).
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Ganzheitlich, emanzipatorisch und multidisziplinäre – Neue Konzepte und Modelle Ulrike Hauffe – Pionierin Ulrike Hauffe spricht über ihre Arbeit im Bereich Frauengesundheit – von der über die Entwicklung eines emanzipatorischen und ganzheitlichen Konzepts für die Geburtsvorbereitung, einer Praxis mit multidisziplinärer Schwangerenvorsorge und von der Konzeption des Neubaus einer Frauenklinik – einem Projekt, das gemeinsam mit Frauen gestaltet wurde. (13:55 min) Download Video |
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Macht – Frau – Gesundheit Juliane Beck – Pionierin Juliane Beck erzählt von ihren Aktivitäten als Pionierin – von innovativen Konzepten für die Geburtsvorbereitung, der Gründung der Beratungsstelle für Natürliche Geburt und Elternsein 1979 in interdisziplinärer Zusammenarbeit und von ihrer frauengesundheitspolitischen Arbeit in München. (9:55 min) Download Video |
Eine ähnliche Entwicklung ist bezüglich der politischen Etablierung der Frauengesundheitsbewegung auszumachen. Pionierinnen der Frauengesundheitsbewegung mit unterschiedlichster Fachexpertise gründeten 1993 den Arbeitskreis Frauengesundheit in Medizin, Psychotherapie und Gesellschaft e. V. (AKF e. V.) – heute der größte unabhängige Zusammenschluss von Organisationen und Expertinnen in diesem Bereich. Der AKF e.V. setzt sich auf vielfältige Weise für eine frauen- und bedarfsgerechte, evidenzbasierte und qualitativ hochwertige Versorgung ein. Er engagiert sich für Gesundheitsförderung, Prävention und Gesundheitsinformation und kooperiert mit einer Vielzahl von gemeinnützigen Einrichtungen, Behörden und Regierungsorganisationen auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene. Im Verlauf der Jahrzehnte ist der AKF e.V. zu einer bedeutenden gesundheitspolitischen Instanz geworden. Er beobachtet und kommentiert Entwicklungen in Gesundheitsversorgung und -politik, informiert darüber, fordert Korrekturen, bezieht Stellung in gesundheitspolitischen Debatten und gibt Anstöße für neue Entwicklungen, wie etwa der Entwicklung von Leitlinien. Pionierinnen der Frauengesundheitsbewegung haben Frauengesundheit als Politikfeld etabliert.
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Gesundheitspolitikerin Ulrike Hauffe berichtet von ihrer Arbeit als Landesbeauftragte für Frauen des Landes Bremen. Sie wirft einen kritischen Blick auf die Versorgung von Frauen während Schwangerschaft und Geburt und gibt Einblicke in die Entwicklung des Nationalen Gesundheitsziels „Gesundheit rund um die Geburt“. (8:16 min) Download Video |
Hausgeburten und Geburtshäuser – für eine selbstbestimmte Geburt
Inspiriert durch die Frauen- und Frauengesundheitsbewegung formierte sich, wie in anderen Ländern, auch in Deutschland in den 1970er und 1980er Jahren Widerstand gegen die medikalisierte Geburtshilfe und die damit verbundenen entmündigenden und respektlosen Praktiken. Frauen, Eltern, Geburtsvorbereiterinnen, Hebammen und Ärzt*innen forderten eine Geburtshilfe, die die Würde der Frau achtet und eine bessere Versorgung ermöglicht. Als Alternative zur Geburt in der Klinik kam es zu einer Wiederbelebung der Hausgeburt, die zu dieser Zeit nur noch vereinzelt praktiziert wurde, z. B. in Kreisen der Waldorf-Bewegung und bestimmten Migrant*innen-Communities. Gleichzeitig gab es nur noch wenige freiberufliche Hebammen, die Hausgeburten begleiteten. Ab Mitte der 1980er-Jahre entstanden die ersten Geburtshäuser nach amerikanischem Vorbild. Das erste Geburtshaus in Deutschland wurde 1987 in Berlin-Charlottenburg gegründet. Auch wenn die Rate der außerklinischen Geburten – das heißt, der Haus- und Geburtshausgeburten – seitdem konstant bei nur ca. 2 % liegt (mit regionalen Unterschieden), markieren diese Entwicklungen wichtige Schritte im Prozess des Wandels zu einer neuen Geburtskultur mit mehr Wahlmöglichkeiten.
Kontroversen um außerklinische Geburtshilfe
Von ärztlicher Seite gab es von Beginn an bis heute Vorbehalte gegen die außerklinische Geburtshilfe und teilweise massive Bestrebungen, sie als unsicher und gefährlich darzustellen und diejenigen, die sie anbieten, als unprofessionell und fahrlässig zu diffamieren. Studien, wie u. a. die Datenanalyse der Gesellschaft für Qualität in der außerklinischen Geburtshilfe e.V. (QUAG) belegen jedoch andere Tatsachen: Gebärende, die keine zusätzlichen Risiken aufweisen, haben bei einer außerklinischen Geburt bessere Geburtsergebnisse und berichten von einem größeren Wohlbefinden als Frauen mit denselben Voraussetzungen, die in einer Klinik gebären. Weitere Informationen hierzu finden sich unter https://www.quag.de/ sowie in den Artikeln von Nele Krüger in Modul 6 und Modul 7
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Elisabeth Geisel – Pionierin Elisabeth Geisel berichtet von ihrer Arbeit als Aktivistin in der Geburtsvorbereitung, von internationalem Austausch und Vernetzung und der Gründung des Geburtshauses in Frankfurt/M. Sie fragt, wer aus welchen Gründen als Expert*in angesehen wird. (21:26 min) Download Video |
Veränderungen in den Kliniken
Die Forderungen der Frauenbewegung führten im Verlauf der 1980er Jahre dazu, dass sich viele Kliniken – auch aus wirtschaftlichen Gründen unter wachsendem Konkurrenzdruck, zumindest teilweise, auf die Wünsche der Frauen und Eltern einstellten. Doch während sich die Gestaltung der Kreißsäle veränderte, blieb die grundlegende Philosophie oft unangetastet. So verbreitete sich beispielsweise das in den 1970er Jahren in wenigen Kliniken eingeführte Konzept des Rooming-in, bei dem Mutter und Kind nach der Geburt gemeinsam in einem Zimmer untergebracht werden, nur sehr langsam. Erst in den 1990er Jahren wurde Rooming-in zunehmend Standard in deutschen Kliniken. Heute gilt das Konzept als Best practice zur Förderung der Mutter-Kind-Bindung und des Stillens.
Pionierarbeit für eine neue Geburtskultur
In einigen wenigen Kliniken gab es bereits in den 1970er Jahren bahnbrechende Initiativen, die die geburtshilfliche Philosophie grundlegend neu dachten und lebten. Engagierte Fachkräfte entwickelten frauen- und familienzentrierte Ansätze, die die Wünsche und Bedürfnisse der Gebärenden in den Mittelpunkt stellten. Ein Beispiel einer solchen Pionierarbeit war die geburtshilfliche Abteilung der Paracelsusklinik in Henstedt-Ulzburg, die früh neue Wege ging und sich in diesem Prozess beständig weiterentwickelte.
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Geburtskulturen im Wandel – Eine Geburtsklinik als Pionierin Die geburtshilfliche Abteilung der Paracelsus-Klinik in Henstedt-Ulzburg war in den 1970er Jahren Pionierin einer frauen- und familienfreundlichen Geburtshilfe. Über vier Jahrzehnte wurden die damit verbundenen Werte in beständiger Weiterentwicklung gelebt. Im Video teilen Hebammen und der damalige Chefarzt ihre Erfahrungen. Sie sprechen von Herausforderungen, Engagement und Leidenschaft. (28:47 min) Download Video |
Die zweite Welle der Pathologisierung und Technisierung von Schwangerschaft und Geburt
Seit den 1990er Jahren nehmen die Technisierung der normalen Geburt und die Pathologisierung der Schwangerschaft erneut zu. Nach wie vor sind die Prozesse um Schwangerschaft und Geburt von zahlreichen Interventionen in den physiologischen Verlauf geprägt. Während die Weltgesundheitsorganisation (WHO) von 15-20 % Risikoschwangerschaften ausgeht, werden in Deutschland 75-80 % aller Schwangeren als risikobehaftet eingestuft. Die Kaiserschnittrate hat sich seit 1991 innerhalb von 20 Jahren mehr als verdoppelt. Sie liegt in Deutschland bei großen regionalen Unterschieden im Bundesdurchschnitt bei etwa 30 %, während die WHO eine Kaiserschnittrate von 10-15 % als optimal bezeichnet. Gleichzeitig verunsichert die Konfrontation mit komplexen Entscheidungen bezüglich vorgeburtlicher Diagnostik in der frühen Schwangerschaft viele Frauen und Paare. Eine Vielzahl verfügbarer Information höchst unterschiedlicher Qualität hinterlässt oft wenig Vertrauen in die Kompetenz ihres Körpers (Hertle et al. 2021).
Gleichzeitig sind neue Bewegungen von unten entstanden sowohl auf internationaler als auch auf nationaler Ebene. Ein Beispiele hierfür sind Roses Revolution – eine internationale Initiative gegen Respektlosigkeit und Gewalt in der Geburtshilfe und Mother Hood e.V., ein nationaler Zusammenschluss von Elterninitiativen für eine bessere geburtshilfliche Versorgung.
Stellvertretend für eine neue Generation von Aktivistinnen und Pionierinnen für eine menschenwürdige Geburt und eine bessere Versorgung haben wir mit Mascha Grieschat über ihr Engagement für eine „Gerechte Geburt" und über die Aktion „Roses Revolution“ gesprochen. Mit Katharina Desery sprachen wir über Aktivitäten und Meilensteine der Elterninitiative Mother Hood e.V.
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Deine Rose ist unsere Aufgabe Mascha Grieschat – Aktivistin Nach traumatischen Erfahrungen bei der Geburt ihres ersten Kindes wurde Mascha Grieschat zu einer Expertin und Aktivistin im Bereich der Rechte unter der Geburt. Unter anderem gründete sie die Initiative „Gerechte Geburt“ und etablierte „Roses Revolution“ in Deutschland. Im Interview spricht sie über ihre Motivation, ihr Engagement und ihre Erfahrungen. (27:39 min) Download Video |
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Katharina Desery „Mother Hood e. V. – Eltern ermächtigen sich Katharina Desery ist Vorständin und Pressesprecherin von Mother Hood e. V., einem 2015 gegründeten Netzwerk von Elterninitiativen, das sich für die Rechte von Eltern für sichere Geburten und eine bessere Geburtshilfe und Versorgung im Kontext von Schwangerschaft, Geburt und Elternwerden einsetzt. Im Interview spricht Katharina Desery über den Beginn der Bewegung, Meilensteine und die Ziele des Netzwerkes. (29:56 min) Download Video |
Vertiefender Artikel
Neue Konzepte einer frauen- und menschenwürdigen Geburt
Inspiriert und geprägt wurde die Bewegung für eine selbstbestimmte Geburt durch neue Konzepte einer „sanften“, „alternativen“ oder „natürlichen“ Geburt, die vor allem in den 1970er Jahren entstanden. Die Konzepte, die in verschiedenen Ländern entstanden, haben unterschiedliche Schwerpunkte und wissenschaftliche Hintergründe. Ihnen gemeinsam ist die Intention einer Entpathologisierung der Geburt und einer Ausrichtung auf Frauen- und Menschenwürde. Je nach Perspektive liegt der Schwerpunkt auf dem Wohl des Kindes, den Bedürfnissen der Frau mit ihrem Kind oder der Geburt als physiologischem Prozess und Potenzial. Einige dieser Pionier*innen werden im Folgenden vorgestellt: |
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Reflexionsfragen
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Literatur
Beck, J. & Weigert V. (Hrsg.). (1981). Erlebnis Geburt. München: Biederstein-Verlag.
Burgert, C., Schröder, M., Bentz, P., & Fränznick, M. (2014). Frauengesundheit in eigener Hand: 40 Jahre Feministisches Frauen-Gesundheits-Zentrum e.V. Berlin. In Franke, Y., Mozygemba, K., Pöge, K., Ritter, B., & Venohr, D. (Hrsg.), Feminismen heute: Positionen in Theorie und Praxis (S. 339–352). Transcript Verlag.
David, M., & Ebert, A. D. (2020). Die „programmierte Geburt“ – Traum oder Albtraum? Geburtshilfe Frauenheilkd, 80(4), 358–361. https://doi.org/10.1055/a-1107-1937.
Dick-Read, G. (1933). Natural Childbirth. London: Heinemann.
Duden, B. & Vogeler, K. (2019). Wissenschaft oder erlebte Wirklichkeit? Deutsche Hebammen Zeitschrift 71 (11) (S. 46-51).
Fischer-Homberger, E. (1979). Krankheit Frau und andere Arbeiten zur Medizingeschichte der Frau. Bern: Huber.
Gaskin, I. M. (1975). Spiritual Midwifery. Sommertown, TN: Book Publishing Company.
Gaskin, I. M. (2003). Going backwards: The concept of “pasmo”. The Practising Midwife, 6(8), 34–36.
Hauffe, U. (2016). Hauffe, U. (2016, April 29). Einst belächelt, jetzt etabliert: Die Erfolgsgeschichte der Frauengesundheitsbewegung [Vortrag]. Fachtagung „Frauengesundheit im Wandel der Zeit“ anlässlich 30 Jahre FGZ München, München, Deutschland. Abgerufen von https://www.frauengesundheitszentren.de/BV_pub/wp-content/uploads/2011/02/Geschichte-der-Frauengesundheitszentren-in-Wegweiser-B%C3%BCrgergesellschaft.pdf
Hertle, D., Schindele, E., & Hauffe, U. (2021). Es ist nicht egal, wie wir geboren werden: Ein Plädoyer für einen Kulturwandel in der geburtshilflichen Versorgung. In Repschläger, U., Schulte, C., & Osterkamp, N. (Hrsg.), Gesundheitswesen aktuell 2021 (S. 220–249). Barmer Institut für Gesundheitsforschung. https://doi.org/10.30433/GWA2021-220
Klaus, M. & Kennel, J. (1987). Mutter-Kind-Bindung: Über die Folgen einer frühen Trennung. München: Deutscher Taschenbuch Verlag (dtv).
Kitzinger, S. (1989). Schwangerschaft und Geburt. Das umfassende Handbuch für werdende Eltern. München: Kösel.
Leboyer, F. (1974). Der sanfte Weg ins Leben. Geburt ohne Gewalt. München: Desch.
Mutke, H. G. (1977). Die programmierte Beendigung der Schwangerschaft und die terminierte Geburt. Deutsches Ärzteblatt, 2 (13.Januar 1977), S. 93-94
Odent, M. (1979). Die sanfte Geburt. Die Leboyer-Methode in der Praxis. München: Kösel.
Schindele, E. (2024) Podcast "Alt und Unverzagt – Frauen erzählen Geschichte". Folge 9: Mutige Löwin in Abendblüte. Abgerufen von https://www.podcast.de/episode/644136399/mutige-loewin-in-abendbluete-zu-besuch-bei-der-frauenaerztin-barbara-ehret oder www.eva-schindele.de)
Schumann, M. (2006). Westdeutsche Hebammen zwischen Hausgeburtshilfe und klinischer Geburtsmedizin (1945-1989). In Zwischen Bevormundung und berufliche Autonomie. Die Geschichte des Bundes deutscher Hebammen. Bund deutscher Hebammen e.v.: Karlsruhe.
Stolzenberg, R. (2000). Frauengesundheitszentren und Geburtshäuser. Von Autonomie und Abgrenzung zu Einfluss und Kooperation. Kolip, P. (Hrsg.), Weiblichkeit ist keine Krankheit. Die Medikalisierung körperlicher Umbruchphasen von Frauen (S. 215-237). Weinheim, München: Juventa.
Ullrich, C. (2021). Frauengesundheitszentren: Orte der unabhängigen Beratung und Information für Frauen* und Mädchen*. Abgerufen von https://www.frauengesundheitszentren.de/BV_pub/wp-content/uploads/2011/02/Geschichte-der-Frauengesundheitszentren-in-Wegweiser-B%C3%BCrgergesellschaft.pdf
Voget, H. (1987) Schwanger in Berlin. Informationen, Adressen, Berichte. Berlin: Lia Verlag.
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