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07. Notwendiger Wandel – neue Lernkulturen und Versorgungsstrukturen

Abschlussbedingungen

Inhalte des Moduls:

Themenübersicht Modul 01  

Modul 07 knüpft an die existenzielle und die politische Dimension der Geburt – die zentralen Themen aus Modul 01 – an und richtet den Blick auf den dringend notwendigen Wandel der Geburtskultur.
Diese Transformation ist eine Aufgabe von hoher gesellschafts- und gesundheitspolitischer Relevanz, die grundlegende Änderungen auf unterschiedlichen Ebenen erfordert. Dazu gehört die Entwicklung neuer interdisziplinärer Ausbildungs- und Lernkulturen der Fachkräfte als Grundlage einer gemeinsamen Philosophie einer empathischen geburtshilflichen Begleitung und qualitativ hochwertiger Versorgung.
Ebenso essenziell sind innovative Versorgungsstrukturen, die einen bewussteren und gesundheitsfördernden Umgang mit den verfügbaren Ressourcen ermöglichen.
Auf gesellschafts- und gesundheitspolitischer Ebene braucht es ein klares Bekenntnis zur Wertschätzung und Humanisierung der Geburt sowie die Bereitschaft, nachhaltig in die Förderung der Gesundheit rund um die Geburt zu investieren.  


Einführung

Der notwendige Wandel in Richtung „Gesundheit rund um die Geburt“, der auch im gleichnamigen Nationalen Gesundheitsziel (Gesundheitsziele.de, 2017) beschrieben ist, betrifft nicht nur die Geburtskultur, sondern die gesamte Versorgung während der Schwangerschaft, im Wochenbett und im ersten Lebensjahr des Kindes. Dieser Wandel muss auf vielen Ebenen stattfinden. Im Kontext dieses Lernangebotes, das den Fokus auf die menschenwürdige Geburt legt, widmet sich dieses Modul Prozessen, die neue Formen der Zusammenarbeit in der geburtshilflichen Praxis ermöglichen, sowie Versorgungsmodellen, die die Humanisierung der Geburt fördern, bessere Bedingungen für die Fachkräfte ermöglichen und ressourcenschonender gestaltet sind.

Die Frage nach dem notwendigen Wandel ist zuallererst eine politische. Sie verweist auf Macht- und Eigentumsverhältnisse auf dem Geburtsterritorium sowie auf die grundlegenden Frage nach der „Definition des Ereignisses“ (Jordan, 1978). Ebenso geht es um das jeweils vorherrschende „autoritative Wissen“ (Davis-Floyd et al, 1997), das festlegt, was als „normale“ Geburt gilt, welche Fähigkeiten und Kompetenzen als notwendig erachtet werden und wer als Expert*in gilt. 

Die Ausschnitte aus Interviews mit Zeitzeug*innen illustrieren die Wirkungen von Machstrukturen: Sie berichten von körperlich und seelisch Erlittenem, von Verletzungen und Beschädigungen – aber auch von Aufbegehren, Verweigern und Selbstermächtigung. Deutlich wird dabei, dass nicht nur die Gebärenden und ihre Angehörigen unter den Machtstrukturen leiden, sondern auch die Fachkräfte – insbesondere während ihrer Ausbildung und beruflichen Sozialisation. 

Die Interviews zeigen auch, dass eine andere Geburtshilfe möglich ist. Sie machen deutlich, welche geburtshilfliche Philosophie und welche Elemente der Teamkultur dies ermöglichen. Dabei wird spürbar, welche Kräfte dieses Bekenntnis bei den allen Beteiligten freisetzt und  dass die Geburtserfahrung als Ermächtigung erlebt werden kann. Wie die Geburt selbst, sind erfolgreiche geburtshilfliche Teams dynamisch: Sie entwickeln sich weiter im gemeinsamen Lernen. Ein nachhaltiger Wandel in der Geburtshilfe muss daher bereits in der Ausbildung der begleitenden Professionen ansetzen.

Kulturen des Lernens verändern

Auch die Sozialisation der Fachkräfte – sowohl in der Theorie als auch in der Praxis – spiegelt das jeweils geltende, „autoritative Wissen“ (Davis-Floyd et al, 1997) wider. Dieses umfasst weit mehr als fachliche Inhalte. Es prägt auch das professionelle Selbstverständnis, und die leitenden Werte, die die Aufgaben und Ziele der eigenen Arbeit definieren. Die Auseinandersetzung mit der professionellen Identität und ihrer Vermittlung wirft grundlegende ethische Fragen auf: Welche Verantwortung tragen die Fachkräfte gegenüber der Gebärenden, ihrem Kind und ihrer Familie? Was ist ihre Verpflichtung gegenüber den Auszubildenden? Welche Werte wollen sie vorleben und weitergeben?

Gemeinsames Lernen und geteiltes Wissen

Um die Zusammenarbeit der begleitenden Berufsgruppen zu verbessern, sollte interprofessionelles Lernen bereits im Studium gefördert werden. Durch das gemeinsame Lernen entsteht ein Miteinander auf Augenhöhe. Es entsteht ein gemeinsames Verständnis der Physiologie von Schwangerschaft und Geburt, der Qualitätsstandards geburtshilflicher Versorgung und der leitenden Prinzipien. Es bildet die Basis von geteilten Werten in der Zusammenarbeit.

Eine interprofessionelle Aus-, Fort- und Weiterbildung mit Fokus auf Salutophysiologie ist essenziell, um die geburtshilfliche Versorgung hin zu einer frau-zentrierten und menschenwürdigen Geburt weiterzuentwickeln. Insbesondere die Begleitung der physiologischen Geburt muss dabei im Mittelpunkt stehen. Denn das Wesen des Gebären und der Geburtsbegleitung kann nicht theoretisch gelernt oder in kurzen Intervallen von Anwesenheit bei der Gebärenden oder einer Geburt verstanden werden. Das gilt für alle Fachkräfte in der Geburtshilfe. 

Als Prozess, der hochindividuell verläuft, wird die Geburtsbegleitung als „Kunst des achtsamen Nichtstuns“ beschrieben – eine Fähigkeit, die vor allem in der kontinuierlichen Eins-zu-eins-Betreuung erfahren und erlernt wird. Aus dieser unmittelbaren leiblichen Lernerfahrung entwickelt sich ein tiefes Verständnis für die Geburt als Prozess, für das Spektrum der Physiologie und die Kunst der Begleitung (siehe Video „Eins-zu-eins-Betreuung lernen“). Diese Form der Betreuung ist eine zentrale Kompetenz der Hebammenarbeit (Krüger, 2024). Als Essenz der Geburtsbegleitung stellt sie eine fundamentale Voraussetzung für das Gelingen der physiologischen Geburt dar (Sandall et al., 2016; McLachlan et al, 2016; Wong et al., 2015; Hodnett et al., 2013). 

Eine zukunftsweisende Lernkultur sollte Studierenden der Hebammenwissenschaft und der Medizin ermöglichen, gemeinsam in der Eins-zu-eins-Begleitung ausgebildet zu werden und die dabei gewonnenen Erfahrungen unter Anleitung zu reflektieren. Diese Geburtsbegleitung wurde als wesentlicher Bestandteil des Hebammenwesens in 2023 von der UNESCO als schützenswertes immaterielles Kulturerbe der Menschheit anerkannt (Deutsche UNESCO-Kommission 2023). Wenn diese Kernkompetenz verloren geht, weil sie nicht mehr erlernt wird oder die personellen Ressourcen dafür nicht existieren, hat das tiefgreifende Folgen für die Mutter-Kind- und Familiengesundheit und das gesamte Gesundheitssystem. 

Studierenden Hebammenkunst vermitteln von Angelica Ensel (CC BY)
  Studierenden Hebammenkunst vermitteln
 
Was ist Hebammen wichtig, wenn sie angehende Kolleg*innen ausbilden? Welche Werte, Fertigkeiten und Erfahrungen möchten sie weitergeben? Welche Herausforderungen und welche Freude bringt diese Aufgabe mit sich? Hebammen berichten von ihren Erfahrungen. (17:58 min)

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Voneinander lernen

Viele Ärzt*innen beginnen ihre Ausbildung im Kreißsaal mit fast ausschließlich theoretischem Wissen über die Geburt. Deshalb lernen sie vor allem von den Hebammen, die sie in die jeweilige geburtshilfliche Kultur einführen. Was sie am Anfang lernen – und vor allem, wie sie es lernen – prägt maßgeblich nicht nur das Fachwissen, sondern auch ihre Wahrnehmung des Geburtsgeschehens. Es formt ihre „Definition des Ereignisses“, ihre Vorstellungen bezüglich der geltenden Regeln auf dem „Geburtsterritorium“ und entsprechend ihre Haltung zur Physiologie der Geburt sowie deren Begleitung. 

Als Ärzt:innen von Hebammen lernen von Angelica Ensel (CC BY)
  Als Ärzt:innen von Hebammen lernen
 
Nach dem Medizinstudium haben junge Ärzt*innen meist nur theoretisches Wissen in der Geburtshilfe. Was Gebären bedeutet und was die Begleitung einer Geburt braucht, lernen sie im Kreißsaal von den Hebammen – eine besondere Konstellation, denn die in der Praxis unerfahrenen Ärzt*innen sind formal weisungsbefugt. (16:06 min)

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Die Offenheit und Freude, als geburtshilfliches Team miteinander und voneinander zu lernen, sich gemeinsam weiterzuentwickeln und Neues zu etablieren, zeichnet ein gutes Team aus. Die Videos zum Von- und Miteinander-Lernen in der Geburtshilfe verdeutlichen, wie wertvoll, wenn auch nicht immer konfliktfrei, das wechselseitige und gemeinsame Lernen in gegenseitiger Wertschätzung im geburtshilflichen Team ist. Sie zeigen auch, welche Bereicherung es sein kann, die Entwicklung der Lernenden zu begleiten, Wissen als Kolleg*innen zu teilen und sich gemeinsam weiterzuentwickeln.

Voneinander und miteinander lernen im geburtshilflichen Team von Angelica Ensel (CC BY)
  Voneinander und miteinander lernen im geburtshilflichen Team
 
Wie ist es, als junge Hebamme in einem eingespielten Team zu beginnen? Was lernen Hebammen, wenn sie nach Jahren in der Klinik anfangen, in einem Geburtshaus arbeiten? Was können erfahrene und junge Hebammen voneinander lernen? Und welche Rahmenbedingungen braucht es, damit das gemeinsame Lernen in einem geburtshilflichen Team nie aufhört? Junge und alte Hebammen sprechen über ihre Erfahrungen. (31:35 min)

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Machtstrukturen und Gewaltprävention

Die Ausbildung in der Geburtshilfe ist untrennbar mit der Auseinandersetzung mit Machtstrukturen, Respektlosigkeit und Übergriffen verbunden. Dabei stellt sich die Frage, wie gewaltvolle Routinen und Hierarchien im Rahmen der professionsbezogenen Sozialisation weitergegeben werden – und welche Möglichkeiten es gibt, dem entgegenzuwirken. 

Ein großer Teil der praktischen Ausbildung findet in hierarchisch strukturierten klinischen Strukturen statt. Hier gehören Rituale der Macht und grenzüberschreitendes Verhalten häufig zu den Routinen im Arbeitsalltag, meist unbewusst und unhinterfragt. Sie werden im Verlauf  der eigenen beruflichen Sozialisation erlernt und als „normale“ Praxis weitergegeben. 

Erschreckenderweise verändern sich diese Strukturen über Jahrzehnte hinweg kaum. Interviews mit Hebammen unterschiedlicher Generationen zeigen, dass die Erfahrungen in der Ausbildung über Jahrzehnte hinweg erstaunlich ähnlich sind und dass Machtstrukturen sowie gewaltvolle Rituale über Generationen weitergegeben werden (siehe Video: „Gewalt in der Geburtshilfe – Erfahrungen von Lernenden aus unterschiedlichen Generationen“ in Modul 1).

Ein wesentlicher Grund für diese transgenerationale Weitergabe von Gewaltmustern ist das Fehlen von Rückmeldestrukturen und Reflexion – eine etablierte Kultur des Schweigens. Hebammenarbeit beinhaltet ein großes Machtpotenzial. Bei der Geburtsbegleitung arbeiten Hebammen die meiste Zeit allein und unbeobachtet von Kolleg*innen. Oft sind, neben den Eltern, die Auszubildenden die einzigen, die die Arbeit einer Hebamme aus nächster Nähe erleben. Durch ihren wechselnden Einsatz bei verschiedenen Hebammen, erhalten sie Einblicke in ein Spektrum von Handlungs- und Verhaltensmustern, von dem viele Kolleg*innen nichts wissen. 

Fast alle Auszubildenden werden Zeug*innen von Respektlosigkeit und Gewalt während der Geburt. Manchmal geraten sie ungewollt in die Rolle von Mittäter*innen, weil sie „mithelfen“ müssen. Dies führt häufig zu Schuldgefühlen, weil sie die Gebärende nicht schützen konnten. Dabei sind selbst, grundsätzlich und als Mitwissende, vom Wohlwollen der Hebammen abhängig. Zudem erleben Auszubildende, wie Machtstrukturen und Gewaltkulturen ihre eigene Person betreffen – sei es durch respektlosen Umgang oder Überforderung. Das wirkt sich auf ihr körperliches und seelisches Wohlbefinden aus. Fehlt der Raum für Reflexion und Austausch über belastende Erfahrungen, begleitet das Gefühl von Ohnmacht viele durch die gesamte Ausbildungszeit. Nicht wenige Studierende der Hebammenwissenschaft entscheiden sich daher bereits während ihrer Ausbildung gegen eine Tätigkeit in der klinischen Geburtshilfe. 

Doch nicht alle grenzen sich von diesen Strukturen ab. In der Identifikation mit der Institution kann es zur Übernahme und Weitergabe von gewaltvollen Verhaltensweisen und machtvollen Ritualen kommen. Ob sich die Muster fortsetzen oder eine Abkehr erfolgt, hängt maßgeblich davon ab, ob Kommunikation, Reflexion und Perspektivwechsel als Schlüsselkompetenzen während der Ausbildung gefördert werden. 

Fördernde Lernbedingungen und Lernerfahrungen von Angelica Ensel (CC BY)
  Fördernde Lernbedingungen und Lernerfahrungen
 
Schon ab dem ersten Praxiseinsatz in der Klinik erleben auszubildende Hebammen das Spektrum geburtshilflicher Realität – von wunderschönen Momenten bishin zu belastenden Herausforderungen. Was hilft ihnen, mit diesen Erfahrungen umzugehen? Welche Bedingungen der Anleitung fördern ihr Lernen und ihre Entwicklung? Junge Hebammen blicken zurück und berichten, was sie gestärkt hat. (33:33 min)

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Ein Zeichen des Wandels setzt hier die Initiative „Respektvolle Lernumgebung“, die von Studierenden der Hebammenwissenschaft begründet wurde. Sie zeigt, wie eine neue Generation von Lernenden aktiv den Dialog mit Mitarbeitenden und Leitungspersonen in den Kreißsälen ihrer Praxisorte sucht und an neuen Lernkulturen arbeitet. 

Respektvolle Lernumgebung – eine Initiative von Studierenden von Angelica Ensel (CC BY)
  Respektvolle Lernumgebung – eine Initiative von Studierenden
 
Respektlosigkeit und übergriffiges Verhalten gegenüber Gebärenden gehören für viele Auszubildende zum Alltag am Praxisort. Oft erleben sie, dass auch mit ihnen nicht gut umgegangen wird. Um dieser Herausforderung zu begegnen, gründeten Studierende die Initiative „Respektvolle Lernumgebung“. Ihr Ziel: einen offenen Dialog mit den Kreißsaalleitungen zu schaffen – für eine wertschätzende und achtsame Lernkultur. (18:26 min)

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Neue Versorgungsmodelle für einen Paradigmenwechsel

Um die Medikalisierung und Institutionalisierung der Geburt zu überwinden, braucht es, so die Hebammenwissenschaftlerin Lesly Page, eine Betreuung, „... die die komplexen Prozesse der Physiologie und das Bedürfnis nach Selbstbestimmung respektiert. Diese Gesundheitsversorgung sollte jeder Frau, ihrem Kind und ihrer Familie den besten Start ins Leben ermöglichen, egal, wo sie lebt“ (Page, 2019, S.9) 

Wie in den 1970er und 1980er Jahren braucht die geburtshilfliche Kultur in Deutschland wieder eine starke Bewegung für einen grundlegenden Wandel, um frauen- und menschwürdige Bedingungen zu schaffen. Vieles hat sich seitdem verändert. Kapitalistische und neoliberale Strukturen in Wirtschaft und Gesellschaft haben zu einem zunehmend geringerem Maß an staatlicher Fürsorge geführt. Veränderungen in der Krankenhausfinanzierung, insbesondere die Einführung der DRGs (Diagnosis Related Groups) und das System der Fallpauschalen, haben in vielen geburtshilflichen Abteilungen zu prekären Bedingungen für Frauen, Kinder, Familien und die Fachkräfte geführt. Zudem setzen die DRGs falsche Anreize bezüglich der Versorgung. 

Gleichzeitig eröffnen Digitalisierung und soziale Medien neue Möglichkeiten der Partizipation, Vernetzung und Mitgestaltung. Elterninitiativen, wie Motherhood e. V., haben eine Stimme, die zunehmend auch bei der Erstellung von Leitlinien gehört wird. Frauen können ihre Wünsche klarer äußern und laut Patientenrechtegesetz müssen sie bei jeder Intervention nach ihrem Einverständnis gefragt werden. Theoretisch können sie den Ort der Geburt frei wählen, auch steht ihnen eine Fülle von Informationen zur Verfügung. Auch die Gestaltung der Kreißsäle hat sich verändert. Gleichzeitig sind die personellen Ressourcen häufig prekär und es fehlt am Wichtigsten, was eine Geburt braucht – einem geschützten Raum und einer empathischen Begleitung. 

Juliane Beck - Pionierin - Blick zurück über 4 Jahrzehnte bis heute von Angelica Ensel (CC BY)
  Blick zurück über 4 Jahrzehnte bis heute
 
Die Aktivistin Juliane Beck blickt auf mehr als vier Jahrzehnte Engagement der Frauengesundheitsbewegung für eine frauenorientierte Geburtshilfe und ordnet die derzeitigen Entwicklungen und Herausforderungen ein. Was hat sich geändert? Und vor welchen Herausforderungen stehen wir heute? (6:28 min)

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In Bezug auf die Qualität der Geburtshilfe hat sich wenig verändert, in mancher Hinsicht ist die Situation noch besorgniserregender als früher. Weiterhin ist die Geburtshilfe durch eine hohe Zahl an Interventionen geprägt, wobei diese heute eine andere Dimension haben als zu Zeiten der programmierten Geburt: Etwa ein Viertel aller Geburten wird heute eingeleitet, jede dritte Geburt endet mit einem Kaiserschnitt (IQTIG, 2020) und eine große Zahl von Frauen erlebt Respektlosigkeit und Gewalt während der Geburt. Doch im Unterschied zu früher werden diese Erfahrungen heute offener benannt und es wird darüber gesprochen. 

Weiterhin gilt: Das Private ist politisch – gesellschaftliche Machtverhältnisse werden am Körper der Frau ausgetragen. Nirgendwo offenbart sich das so deutlich, wie in der Geburtshilfe. Die mangelnde Bereitschaft, ausreichende Ressourcen für eine menschenwürdige Geburt bereitzustellen, spiegelt die geringe gesellschaftliche Wertschätzung der Frau, des Gebärens und der Care-Arbeit. 

Der notwendige Wandel betrifft mehrere Ebenen. In der Ausbildung der Fachkräfte braucht es für die interprofessionelle Zusammenarbeit neue Lernformen und Werteorientierungen, die die Menschenwürde und die Salutophysiologie in den Mittelpunkt stellen. Das Gesundheitssystem benötigt eine Krankenhausfinanzierung, die eine bedarfsgerechte, individuelle und hochwertige Versorgung ermöglicht. Institutionell sind neue Modelle einer hebammengeleiteten Geburtshilfe erforderlich, die die Physiologie der Geburt fördern und die Zufriedenheit aller Beteiligten erhöhen. Zudem gilt es, neue Kulturen der interprofessionellen Zusammenarbeit zwischen Fachkräften und mit den Gebärenden und Eltern zu etablieren. 

Das Nationale Gesundheitsziel „Gesundheit rund um die Geburt“

Eine gesundheitsfördernde Geburtshilfe bedeutet, die Pathologisierung, Medikalisierung und Institutionalisierung der Geburtshilfe kritisch zu hinterfragen und Maßnahmen zur Stärkung der physiologischen Prozesse und der Salutogenese einzuleiten. In der Praxis heißt das: Die Einführung einer evidenzbasierten, empathischen und respektvollen Betreuung, die Frauen und Familien in den Mittelpunkt stellt. Das vom Bundesministerium für Gesundheit herausgegebene Nationale Gesundheitsziel „Gesundheit rund um die Geburt“ (2017) verfolgt diesen salutogenetischen Ansatz in der Lebensphase um Schwangerschaft, Geburt und Elternwerden. Es knüpft an die Ressourcen und das große Potenzial zur Gesundheitsförderung in dieser Lebensphase an, bündelt Fachwissen und stellt Modelle guter Praxis vor. Zwar wurde es 2021 im Kooperationsvertrag der letzten Bundesregierung verankert, doch seine Umsetzung muss massiv eingefordert werden. 

Interprofessionelle Erstellung von Leitlinien

Ebenso wie das Nationale Gesundheitsziel von vielen Berufsgruppen und Verbänden gemeinsam erarbeitet wurde, müssen weiterhin neue Leitlinien zur Versorgung rund um Schwangerschaft, Geburt und Elternwerden unter Beteiligung aller relevanten Berufsgruppen sowie der Elternvertretungen entwickelt werden. Dieser integrative Ansatz fördert eine ganzheitliche, bedarfsgerechte und evidenzbasierte Versorgung, die die tatsächlichen Bedürfnisse von Frauen und Familien im Blick hat.

Ein bewussterer Umgang mit Ressourcen

Eine adäquate gesundheitsfördernde Versorgung erfordert einen verantwortungsvolleren Umgang mit den vorhandenen Ressourcen. Weltweit ist die Versorgungslage um Schwangerschaft und Geburt durch das Phänomen der Unter- und Überversorgung gekennzeichnet. Eine Lancet-Serie von 2016 beschreibt dies als „too little, too late“ und „too much, too soon“ (Miller et al., 2016). In ressourcenarmen Ländern fehlt es an grundlegender Versorgung, was die mütterliche und kindliche Morbidität und Mortalität erhöht. In industrialisierten Ländern hingegen führen Überversorgung, Medikalisierung und nicht indizierte Interventionen zu negativen Folgen. Beide Extreme verdeutlichen die Dringlichkeit einer Humanisierung der Versorgung. Über-, Unter- und Mangelversorgung existieren in vielen Ländern nebeneinander. Sie sind verbunden mit sozialen Ungleichheiten beim Zugang zu adäquater Versorgung (Miller et al. 2016). Hier braucht es einen globalen Ansatz, um eine hochwertige, evidenzbasierte und respektvolle Versorgung zur richtigen Zeit für alle zu ermöglichen. 


Icon_Fachartikel  

Nele Rahel Krüger:
Beispiele zum internationalen Stand der Implementierung von kontinuierlich hebammengeleiteter Betreuung



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Vertiefende Artikel

Hebammengeleitete Geburtshilfe – ein Win-win-Modell für alle

Ein zukunftsweisendes Modell, das Ressourcen schont, die Frau in den Mittelpunkt stellt, Interventionen reduziert und gleichzeitig die Zufriedenheit der Fachkräfte erhöht, ist die hebammengeleitete Geburtshilfe mit Eins-zu-Eins-Betreuung. Dieses Modell kann sowohl in der außerklinischen Geburtshilfe, als auch innerhalb von Klinikstrukturen umgesetzt werden, wie beispielsweise durch einen Hebammenkreißsaal in der Klinik oder ein Geburtshaus auf dem Klinikgelände. 

Internationale Studien belegen, dass die kontinuierliche hebammengeleitete Versorgung im Vergleich zu fragmentierten ärztlichen oder klinikgeführten Betreuungsmodellen zu deutlich weniger Interventionen und einer höheren Zufriedenheit bei den Gebärenden führt. Sie ist mit signifikant niedrigeren Raten an Frühgeburten, Geburtseinleitungen, Kaiserschnitten, einem geringeren Bedarf an Schmerzmitteln, Interventionen und weniger Einweisungen von Neugeborenen in die neonatale Intensivpflege verbunden (vgl. Fikre et al., 2023; Hodnett et a., 2013; Oosthuizen et al., 2019, Sandall et al. 2016) (siehe auch M6, wo dieses Modell und seine Evidenzen ausführlich beschrieben ist). Besonders Frauen aus sozial benachteiligten Gruppen – was mit einer höheren Morbiditäts- und Mortalitätsrate verbunden ist – profitieren von dieser Versorgungsform durch signifikant bessere Ergebnisse (Homer et al., 2017; Rayment et al., 2015). Auch die WHO aus deren Sicht, die Hebamme eine Schlüsselrolle für die reproduktive und die Mütter- und Kindergesundheit hat, propagiert das hebammengeleitete Versorgungsmodell als zukunftsweisend (WHO

Dieses Modell ist nicht nur hinsichtlich der Ergebnisse erfolgreicher es ist auch kosteneffizienter für die Krankenkassen und die Gesellschaft (vgl. Koto et al., 2019; Schroeder et al. 2017; Sandall et al. 2016; Friedman et al. 2015). Zudem hat es bedeutende gesundheitsfördernde Effekte für die Hebammen. Studien belegen eine deutlich höhere Arbeitszufriedenheit, niedrigere Raten für Burnout und Depressionen. Gleichzeitig erleben sie mehr Autonomie, Empowerment und berufliche Erfüllung (Fenwick et al., 2018; Jepsen et al., 2017; Dixon et al., 2017; Newton et al., 2014). 

Die Geburt eines Kindes ist die Geburt unserer Menschlichkeit

Die Evidenz ist eindeutig: Es ist reichhaltig belegt, welche Elemente und Bedingungen die Physiologie der Geburt bestmöglich fördern, wodurch eine menschenwürdige Geburt ermöglicht wird und dass eine menschenwürdige Geburtshilfe nicht nur das Wohlergehen von Frauen und Familien fördert, sondern auch das der Fachkräfte. Gebündeltes Fachwissen und bewährte Modelle bieten klare Handlungsperspektiven. Die Istanbul-Konvention, das Nationale Gesundheitsziel und neue evidenzbasierte Leitlinien bieten klare Orientierungen für einen dringend benötigten Wandel. Was fehlt, ist der politische Wille, dieses Wissen konsequent umzusetzen, in die notwendige Infrastruktur zu investieren und Ressourcen bereitzustellen. 

Eine menschenwürdige Geburt darf kein Zufall und kein Privileg sein – sie ist essenziell für die Gesundheit von Frauen, Familien und Gesellschaft. Ihre Umsetzung ist ein längst überfälliger Schritt zur Gleichberechtigung und Geschlechtergerechtigkeit. Die Hebammenwissenschaftlerin Lesly Page betont: „Die Geburt eines Kindes ist die Geburt unserer Menschlichkeit“ (Page, 2017). Dieses in einer neuen „Bewegung von unten“ als Bürger*innen beharrlich einzufordern, ist politisches Handeln und Ermächtigung.

Notwendiger Wandel von Angelica Ensel (CC BY)
  Notwendiger Wandel
 
Was muss sich in Kliniken ändern, damit Frauen während der Geburt nicht alleine gelassen werden, die Versorgung sicher ist und die Fachkräfte nach ihren Werten arbeiten können? Welche Reformen sind nötig, um eine würdevolle und bedarfsgerechte Geburtshilfe zu gewährleisten? Fachkräfte, Elternvertreter*innen und Aktivistinnen sprechen über die dringend erforderlichen Veränderungen für eine Geburtshilfe, die Frauen, Familien und Fachpersonal unterstützt. (48:40 min)

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Reflexionsfragen

 

 


Literatur

Bundesministerium für Gesundheit (Hrsg.). (2017). Nationales Gesundheitsziel: Gesundheit rund um die Geburt. Verfügbar unter: https://www.bundesgesundheitsministerium.de/service/publikationen/details/nationales-gesundheitsziel-gesundheit-rund-um-die-geburt.html

Davis-Floyd, R., & Sargent, C. F. (Eds.). (1997). Childbirth and authoritative knowledge: Cross-cultural perspectives. University of California Press.

Deutsche UNESCO-Kommission. (2023). Hebammenwesen als schützenswertes Gut zum Immateriellen Kulturerbe der Menschheit. Verfügbar unter https://www.unesco.de

Dixon, L., Guilliland, K., Pallant, J., Sidebotham, M., Fenwick, J., McAra-Couper, J., Gilkison, A. (2017). Theemotional wellbeing of New Zealand midwives: comparing responses for midwives in caseloading and shift work settings. N Z Coll Midwives J 2017;53:9–14

Gesundheitsziele.de. (2017). Gesundheit rund um die Geburt: Ein nationales Gesundheitsziel. Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA). Verfügbar unter https://www.gesundheitsziele.de

Fenwick, J., Sidebotham, M., Gamble, J., Creedy, D.K. (2018). The emotional and professional wellbeing of Australian midwives: A comparison between those providing continuity of midwifery care and those not providing continuity. In: Women and Birth. 2018, Feb;31(1):38–43. doi: 10.1016/j.wombi.2017.06.013.Epub 2017 Jul 8. PMID: 28697882.

Fikre, R., Gubbels, J., Teklesilasie, W., Gerards, S. (2023). Effectiveness of midwiferyled care on pregnancy outcomes in low- and middle-income countries: a systematic review and meta-analysis. BMC Pregnancy Childbirth. 2023 May 26;23(1):386. doi:10.1186/s12884-023-05664-9. PMID: 37237358; PMCID: PMC10214693.

Friedman, H. S., Liang, M., & Banks, J. L. (2015). Measuring the cost-effectiveness of midwife-led versus physician-led intrapartum teams in developing countries. Women‘s health (London, England), 11(4), 553–564. https://doi.org/10.2217/WHE.15.18

Hodnett, E. D., Gates, S., Hofmeyr, G. J., & Sakala, C. (2013). Continuous support for women during childbirth. The Cochrane database of systematic reviews, 7, CD003766. https://doi.org/10.1002/14651858.CD003766.pub5

Jepsen, I., Mark, E., Fourer, M., Nohr, E., Sorenson, E. (2017). A qualitative study of how caseload midwifery is experienced by couples in Denmark. Women and Birth, 30, e61-e69.

Jordan, B. (1978). Birth in Four Cultures: A Crosscultural Investigation of Childbirth in Yucatan, Holland, Sweden and the United States. Illinois: Waveland Press.

Krüger, N. (2024). Gesundheitsförderung durch Eins-zu-eins-Betreuung – Teil 5: Eine andere Geburtshilfe ist möglich. Deutsche Hebammen Zeitschrift, 76 (8), 48–53. 49

Koto, P. S., Fahey, J., Meier, D., LeDrew, M., & Loring, S. (2019). Relative effectiveness and cost-effectiveness of the midwifery-led care in Nova Scotia, Canada: a retrospective, cohort study. Midwifery, 77, 144-154.

Hodnett, E. D., Gates, S., Hofmeyr, G. J., & Sakala, C. (2013). Continuous support for women during childbirth. The Cochrane database of systematic reviews, 7, CD003766. https://doi.org/10.1002/14651858.CD003766.pub5

Homer, C. S., Leap, N., Edwards, N., & Sandall, J. (2017). Midwifery continuity of carer in an area of high socio-economic disadvantage in London: A retrospective analysis of Albany Midwifery Practice outcomes using routine data (1997-2009). Midwifery, 48, 1–10. https://doi.org/10.1016/j.midw.2017.02.009

IQTIG (2020). Bundesauswertung zum Erfassungsjahr 2019 Geburtshilfe. Berlin.

McLachlan, H. L., Forster, D. A., Davey, M. A., Farrell, T., Flood, M., Shafiei, T., & Waldenström, U. (2016). The effect of primary midwife-led care on women‘s
experience of childbirth: results from the COSMOS

Miller S, Abalos E, Chamillard M, Ciapponi A, Colaci D, Comandé D, Diaz V, Geller S, Hanson C, Langer A, Manuelli V, Morhason-Bello I, Castro CP, Pileggi VN, Robinson N, Skaer M, Souza JP, Vogel JP, Althabe, F: ‘Beyond too little, too late and too much, too soon: a pathway towards evidence-based, respectful maternity care worldwide.’ The Lancet 2016. 388 (10056): 2176–2192

Newton, M., McLachlan, H., Willis, K., Forster, D. (2014). Comparing satisfaction and burnout between caseload and standard care midwives: findings from two cross-sectional surveys conducted in Victoria, Australia. BMC Pregnancy Childbirth 2014;14(1):426.

Oosthuizen, S.J., Bergh, A.-M., Grimbeek, J., Pattinson, R. C. (2019). Midwife led obstetric units working ‹CLEVER’: Improving perinatal outcome indicators in a South African health district: A mixed-methods intervention study. S Afr Med J. 2019;109(2):95–101. doi: 10.7196/SAMJ.2019.v109i2.13429.

Page, L. (2019). Die humane Geburt: Zeit für einen Wandel! Deutsche Hebammen Zeitschrift 71 (11): 8-12

Page, L. (2017). The birth of our humanity. British Journal of Midwifery 25 (7): 1-3

Rayment, J., McCourt, C., Rance, S. and Sandall, J. (2015). What makes alongside midwifery-led units work? Lessons from a national research project. The Practising Midwife, 18(6).

Sandall, J., Soltani, H., Gates, S., Shennan, A., & Devane, D. (2016). Midwife-led continuity models versus other models of care for childbearing women. The Cochrane database of systematic reviews, 4(4), CD004667. https://doi.org/10.1002/14651858. CD004667.pub5

Schroeder, L., Patel, N., Keeler, M., Rocca-Ihenacho, L., Macfarlane, A.J.(2017). The economic costs of intrapartum care in Tower Hamlets: A comparison between the cost of birth in a freestanding midwifery unit and hospital for women at low risk of obstetric complications. Midwifery. 2017 Feb;45:28-35. doi: 10.1016/j.midw.2016.11.006. Epub 2016 Nov 21. PMID: 27984773.

Wong, N., Browne, J., Ferguson, S., Taylor, J., & Davis, D. (2015). Getting the first birth right: A retrospective study of outcomes for low-risk primiparous women receiving standard care versus midwifery model of care in the same tertiary hospital. Women and birth: journal of the Australian College of Midwives, 28(4), 279.

World Health Organization (WHO): Transitioning to midwifery models of care: global position paper. Geneva: World Health Organization; 2024. Licence: CC BY-NC-SA 3.0 IGO
Abgerufen von https://iris.who.int/bitstream/handle/10665/379236/9789240098268-eng.pdf?sequence=1


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Zuletzt geändert: Dienstag, 10. Juni 2025, 11:38