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02. Respektlosigkeit und Gewalt im Kontext von Schwangerschaft, Geburt und Elternwerden

Abschlussbedingungen

Inhalte des Moduls:

Themenübersicht Modul 02   Gewalt in der Geburtshilfe ist kein neues Thema, heute wird es jedoch zunehmend thematisiert und es gibt ein wachsendes Bewusstsein dafür, sowohl bei den Betroffenen und werdenden Eltern als auch bei den Fachkräften. Gewalt unter der Geburt hat viele Formen und nachhaltige Folgen. Wir widmen uns dem Thema aus verschiedenen Perspektiven – wissenschaftlich sowie in Interviews mit Betroffenen, Aktivistinnen und Fachkräften.

Respektlosigkeit und Gewalt - Perspektiven von Angelica Ensel (CC BY)
  Respektlosigkeit und Gewalt – Perspektiven
 
Frauen, Fachkräfte, Aktivistinnen und Auszubildende berichten über ihre Einstellung, Erfahrungen und ihr Engagement im Kontext von Respektlosigkeit und Gewalt unter der Geburt. (28:27 min)

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Respektlosigkeit und Gewalt im Kontext der Geburt sind keine neuen Phänomene. Seit Jahrhunderten werden Frauen – im Zusammenhang mit Schwangerschaft und Geburt sowohl körperlich, als auch psychisch verletzt – geprägt durch die jeweiligen sozialen und kulturellen Bedingungen. Meist wurden diese Erfahrungen jedoch als Normalität hingenommen und blieben lange Zeit, auch unter Frauen, unausgesprochen. 

Seit dem 16. Jahrhundert finden sich Berichte über gewaltsame Aspekte in der Geburtshilfe (Jung, 2023). Im 19. Jahrhundert findet sich vereinzelt der Begriff „Gewalt in der Geburtshilfe“ in der Literatur. In den 1970er und 1980er Jahren kritisierte die zweite Frauenbewegung eine patriarchalisch geprägte Geburtshilfe mit zahlreichen Übergriffen und Grenzüberschreitungen und forderte das Recht auf eine selbstbestimmte Geburt. Seit den 2000er Jahren wurde der Begriff von lateinamerikanischen Geburtsaktivistinnen und der Frauenbewegung öffentlich gemacht und später als „obstetric violence“ international etabliert. Er umfasst sowohl Praktiken, die durch strukturelle Bedingungen begünstigt werden als auch die personale Gewalt, die sich als geschlechtsspezifische Diskriminierung von Gebärenden manifestiert (Jung, 2024).


Icon_Fachartikel   Mascha Grieschat: Gewalt in der Geburtshilfe. Eine multidimensionale Betrachtung der Entwicklung des Gewaltbegriffs im Kontext der Geburtshilfe in Deutschland
 
Kapitel I: Herausforderungen der Definition – Die unterschiedlichen Ebenen von Gewalt in der Geburtshilfe

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Wachsendes Bewusstsein

In den 2010er Jahren beginnt „Gewalt in der Geburtshilfe“ das Thema in Deutschland langsam in der Öffentlichkeit präsent zu werden. Zunehmend teilen Frauen ihre Erfahrungen in den sozialen Medien, der Presse und im Fernsehen. Einen Durchbruch bringt die Bewegung der Roses Revolution (siehe Glossar) im November 2013: Frauen legen eine Rose vor die Tür der Entbindungsstation, in der sie körperliche und seelische Verletzungen erfahren haben. Die Anerkennung des Themas durch internationale Organisationen wie der Weltgesundheitsorganisation (WHO), der Vereinten Nationen und des Europarats haben wesentlich dazu beigetragen, Gewalt unter der Geburt als Tatsache und komplexes Phänomen zu verstehen.


Respektlosigkeit und Gewalt – Erfahrungen Mascha Grieschat von Angelica Ensel (CC BY)
  Respektlosigkeit und Gewalt – Erfahrung Mascha Grieschat
 
Mascha Grieschat spricht über die traumatischen Erfahrungen bei der Geburt ihres ersten Kindes, die sie dazu führten, als Aktivistin für eine „Gerechte Geburt“ zu kämpfen.

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Icon_Fachartikel   "Mascha Grieschat: Gewalt in der Geburtshilfe. Eine multidimensionale Betrachtung der Entwicklung des Gewaltbegriffs im Kontext der Geburtshilfe in Deutschland

Kapitel II: Die Entwicklung des Gewaltbegriffs: Erste Einflüsse und Aktionen von Aktivist*innen – Beginn der Frauenbewegung 2.0?

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Die internationale Anerkennung von Gewalt unter der Geburt als systematische Verletzung von Frauenrechten unterstreicht, dass es sich hier nicht lediglich um ein Problem innerhalb der medizinischen Versorgung handelt, sondern um eine Manifestation gesellschaftlicher Machtstrukturen, die umfassende Lösungsansätze erfordern (Jung, 2023).


Icon_Fachartikel   "Mascha Grieschat: Gewalt in der Geburtshilfe. Eine multidimensionale Betrachtung der Entwicklung des Gewaltbegriffs im Kontext der Geburtshilfe in Deutschland

Kapitel III: Von Protesten und Berichten zur ersten internationalen Anerkennung

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Mittlerweile gibt es weltweit Forschungsergebnisse zu diesem Thema sowie Stellungnahmen von Fachgesellschaften und Verbänden. Sie belegen, dass Gewalt unter der Geburt eine weitverbreitete Realität ist und nicht Ausnahme oder individuelle Befindlichkeit. Zahlreiche Studien dokumentieren das Ausmaß. Sie zeigen auch, dass Frauen mit Vorerfahrungen von Gewalt einem erhöhten Risiko ausgesetzt sind, während der Geburt erneut traumatisiert zu werden. Besonders gefährdet für Erfahrungen von Respektlosigkeit und Gewalt sind auch Frauen, die aufgrund ihrer sozialen Herkunft, ihrer Hautfarbe, sexuellen Orientierung oder einer Behinderung mehrfacher Diskriminierung ausgesetzt sind. Dieses Phänomen von sich überschneidenden und verstärkenden Benachteiligungen nennt man Intersektionalität (siehe Crenshaw 1989).

Rassismus und Gewalt unter der Geburt


Icon_Fachartikel   Rassismus und Diskriminierung in der Geburtshilfe von Greta Wolters
 
Der Zugang zu angemessener gesundheitlicher Versorgung während Schwangerschaft und Geburt ist ein Menschenrecht – doch auch in Deutschland wie an vielen Orten der Welt –keine Selbstverständlichkeit. Für Menschen nicht-deutscher Herkunft bestehen zusätzliche Hürden, denn auch das Gesundheitssystem ist von rassistischen und diskriminierenden Strukturen geprägt.

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Vertiefende Artikel


Respektlosigkeit Gewalt und Diskriminierung – Cheng Yee Chong von Angelica Ensel (CC BY)
  Respektlosigkeit, Gewalt und Diskriminierung – Erfahrungen Cheng Yee Chong
 
Cheng Yee Chong berichtet von der Geburt ihres ersten Kindes – von alleine gelassen Werden, Respektlosigkeit, Übergriffen, Rassismus und Diskriminierung und wie diese Verletzungen ihre psychische Gesundheit beeinträchtigt haben. (40:29 min)

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Gewalt in der Geburtshilfe spiegelt die Machtstrukturen, die die Geburt umgeben. Verletzende Rituale und schädliche Praktiken werden in der Ausbildung der Fachkräfte oft unreflektiert weitergegeben und übernommen – als vermeintlich „normal“ oder als medizinische Notwendigkeit. Bei Gewalt unter der Geburt handelt es sich jedoch nicht nur um offensichtliche Übergriffe. Sie manifestiert sich oft in subtilen Formen, was der Philosoph Michel Foucault (1976) als sogenannte „minuziösen Machtrituale“ beschreibt: nonverbale Verhaltensweisen wie herabwürdigende Blicke, Körperhaltungen die Überlegenheit demonstrieren oder Berührungen ohne Einverständnis.


Respektlosigkeit und Gewalt – Erfahrungen von Lernenden von Angelica Ensel (CC BY)
  Respektlosigkeit und Gewalt – Erfahrungen von Lernenden
 
Erfahrungen von Respektlosigkeit und Gewalt begleiten die Ausbildung von Fachkräften seit Generationen. Im Video berichten Hebammen aus verschiedenen Generationen von ihren Erfahrungen und wie diese sie geprägt haben. (21:15 min)

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Kritische Reflexion

Besonders belastend ist es für Auszubildende, wenn sie sich an schädlichen und verletzenden Praktiken beteiligen müssen, ablehnen. In einem geschützten Raum können solche Erfahrungen analysiert und reflektiert werden – eine Chance für angehende Fachkräfte, sich miteinander zu vernetzen und alternative Betreuungsmodelle entwickeln, die eine respektvolle und empathische Geburtshilfe anstreben. Eine kritische Auseinandersetzung mit Machtstrukturen in Ausbildung, Praxis und öffentlicher Debatte ist ein wesentlicher Schritt zu einer gerechteren und respektvolleren Geburtshilfe. Es liegt in der Verantwortung aller Beteiligten, Veränderungen einzuleiten für eine Geburtshilfe, die das Wohl der Gebärenden und reproduktive Gerechtigkeit in den Mittelpunkt stellt.


Icon_Fachartikel   "Mascha Grieschat: Gewalt in der Geburtshilfe. Eine multidimensionale Betrachtung der Entwicklung des Gewaltbegriffs im Kontext der Geburtshilfe in Deutschland
 
Kapitel IV: Geburtshilfliche Gewalt ist kein Privatproblem – Die Politik in die Verantwortung nehmen

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Vertiefende Artikel


Weiterführende Literatur zu Gewalt unter der Geburt und Frauen- und Menschenrechten 


Studien zu Gewalt unter der Geburt

  • Niederlande: 
    Disrespect and abuse during labour and birth amongst 12,239 women in the Netherlands: a national survey (2022) https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/35804419/ pdf
  • Australien:
    Dehumanized, Violated, and Powerless: An Australian Survey of Women’s Experiences of Obstetric Violence in the Past 5 Years (2024)
  • Deutschland:
    Measuring disrespect and abuse during childbirth in a high-resource country: Development and validation of a German self-report tool (2023)
  • Global:
    The Mistreatment of Women during Childbirth in Health Facilities Globally: A Mixed-Methods Systematic Review (2015)

Positionierungen 

Fachforum

Entschuldigung der Gesundheitsminister in Großbritannien und Australien für Respektlosigkeit, Gewalt und Traumata im Kontext der Geburt


Literatur

Crenshaw, Kimberlé. (1989). Demarginalizing the Intersection of Race and Sex: A Black Feminist Critique of Antidiscrimination Doctrine, Feminist Theory and Antiracist Politics. University of Chicago Legal Forum, Vol. 1989(1), Artikel 8, S. 139–167.

Foucault, M. (1976). Überwachen und Strafen: Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt/M: Suhrkamp.

Jung, Tina (2023). Gewalt in der Geburtshilfe als Gewalt gegen Frauen und gebärende Personen. Begriff, Konzept und Verständnisweisen. In: Eva Labouvie/, Geschlecht, Gewalt und Gesellschaft (273-296). Bielefeld: transcript Verlag. https://doi.org/10.14361/9783839464953-016

Jung,T. (2024) Gewalt in der Geburtshilfe – politologische Standortbestimmung. In Kruse, M, Hartman, K (Hg.) Trauma und Gewalt in der Geburtshilfe. Ein Handbuch für Fachkräfte (S. 33-42). Stuttgart: Schattauer. 

Jung, T. (2022) Gewalt unter der Geburt hat System. Deutsche Hebammen Zeitschrift 74 (3): 20-25


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Zuletzt geändert: Donnerstag, 8. Mai 2025, 16:56