06. Physiologie und salutogenes Potenzial der Geburt fördern
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Modul 06 widmet sich den Ressourcen und Kompetenzen, die eine physiologische Geburt bestmöglich fördern und frauenzentriertes Gebären ermöglichen – damit eine Frau gestärkt aus der Geburt herausgeht, unabhängig davon, wie sie geboren hat. |
Einführung
Die Lebensphase rund um die Geburt ist von entscheidender Bedeutung für die langfristige Gesundheit und das Gesundheitsverhalten einer Frau und ihrer Familie. In dieser sensiblen Phase werden wichtige Weichen gestellt, zum Beispiel in Bezug auf Ernährung, Bindung und Stillen (BMG, 2017). Besonders Schwangere, die ihr erstes Kind erwarten, sind oft hochmotiviert, ungesunde Gewohnheiten aufzugeben und neue Wege zu gehen – ein großes Potenzial für Gesundheitsförderung. Die Geburt selbst als Grenzen überschreitende Erfahrung wirkt nachhaltig auf die physische und psychische Gesundheit einer Frau und ihrer Familie (Schäfers, 2015). Eine positive Geburtserfahrung birgt ein hohes Gesundheitspotenzial und kann lebenslange Wirkungen haben – unabhängig vom Geburtsmodus (BMG 2017). Demgegenüber kann eine Geburt, die als verletzend bis hin zu traumatisierend erlebt wurde, langfristig schwerwiegende Folgen für die Frauen-Kinder- und Familiengesundheit haben, etwa in Form von Angststörungen (Dennis et al., 2020) oder einer postpartalen Depression der Mutter (Martínez-Vàsquez et al., 2022). Während eine Gesellschaft von guten Geburtserfahrungen profitiert, verursachen traumatische Erfahrungen hohe Folgekosten – von Therapien, Klinikaufenthalte bis hin zu langfristiger Arbeitsunfähigkeit. Die bestmögliche Förderung der körperlichen und psychischen Gesundheit von Mutter und Kind ist daher nicht nur eine ethische Verpflichtung der betreuenden Fachkräfte, sondern eine gesamtgesellschaftliche gesundheitspolitische Verantwortung.
Das Konzept der Salutophysiologie
Die Salutophysiologie ist ein ganzheitliches hebammengeleitetes Betreuungskonzept, das eine empathische, frauenzentrierte und kontinuierliche Begleitung über die gesamte Schwangerschaft bis in die Zeit nach der Geburt umfasst. Entwickelt von der Hebamme Verena Schmid (2019), basiert die Salutophysiologie auf dem Modell der Salutogenese von Aaron Antonovsky (1987), das sich mit der Entstehung und Erhaltung von Gesundheit befasst. Die Salutophysiologie verbindet traditionelles Wissen mit aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen zu den komplexen Anpassungsprozessen, die während der Schwangerschaft im Zusammenspiel der Organismen von Mutter, Kind und Plazenta stattfinden.
Im Zentrum der der Salutophysiologie steht die Förderung von Schwangerschaft, Geburt und der Zeit danach als normale physiologische Prozesse. Ziel ist es, die Ressourcen und Kompetenzen der Frau zu stärken und sie vor unnötigen Eingriffen zu schützen. Dabei spielt Empowerment eine entscheidende Rolle: Frauen sollen sich als Expertinnen ihres Körpers wahrnehmen und die Kontrolle über sich selbst behalten beziehungsweise zurückgewinnen. Die Salutophysiologie bezieht sich auf evidenzbasierte Erkenntnisse, die ihre Wirksamkeit belegen (Schmid, 2019). Das Konzept wird vor allem in der außerklinischen Geburtshilfe und in hebammengeleiteten klinischen Abteilungen angewendet. Im Sinne einer bestmöglichen Gesundheitsförderung sollten alle Frauen und Familien davon profitieren können.
Die Förderung der physiologischen Geburt, bedeutet nicht, dass eine Geburt, interventionsfrei verlaufen muss. Vielmehr geht es darum, dass möglichst wenige, notwendige und gut begründete Interventionen stattfinden (DNQP & Verbund Hebammenforschung, 2013). Gleichzeitig ist es wichtig, zu betonen, dass eine Geburt ohne Interventionen nicht per se gesundheitsfördernd ist. Sie kann auch als belastend oder traumatisch erlebt werden, wenn eine Frau beispielsweise kein Schmerzmittel erhält, weil die Fachkräfte es für nicht indiziert halten, oder wenn Maßnahmen ohne ihr Einverständnis erfolgen. Die Vermeidung unnötiger Interventionen ist zwar ein zentraler Aspekt einer gesundheitsfördernden Geburtsbegleitung, doch muss stets das Selbstbestimmungsrecht der Frau gewahrt bleiben. Eine Schlüsselrolle spielt hier, wie im gesamten Prozess, die empathische Kommunikation.
Vertiefender Artikel
- Verena Schmid: „Die Frau im Mittelpunkt“ (Salutophysiologie) (DHZ 11/19)
https://staudeverlag.de/die-frau-im-mittelpunkt/
Interventionsreiche Geburtshilfe
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO, 2018) empfiehlt, in einen normal verlaufenden Geburtsprozess nur dann einzugreifen, wenn ein triftiger Grund vorliegt. Jede Intervention sollte sorgfältig abgewogen werden, sodass die potenziellen Vorteile die damit verbundenen Risiken und Nebenwirkungen überwiegen. Vergleicht man diese Empfehlungen mit der Realität der Geburtshilfe in vielen klinischen Einrichtungen, wird deutlich, wie hoch die Zahl der Interventionen im Geburtsverlauf in vielen Ländern tatsächlich ist.
Laut der Statistik des Instituts für Qualitätssicherung und Transparenz im Gesundheitswesen in Deutschland (IQTIG, 2020) wurden in Deutschland im Jahr 2019 bei jeder fünften Geburt die Wehen eingeleitet und jede vierte Frau erhielt ein wehenförderndes Mittel. Ebenso bekam jede vierte Frau eine Periduralanästhesie und fast ein Drittel aller Geburten (30,85 %) erfolgte per Kaiserschnitt – während die WHO eine Kaiserschnittrate von zehn bis maximal 15 % als angemessen erachtet. Seit 1991 hat sich die Kaiserschnittrate mehr als verdoppelt. Aktuelle Zahlen dazu, wie viele Frauen in Deutschland tatsächlich eine Geburt ohne Intervention erleben, liegen nicht vor. Eine Untersuchung aus dem Jahr 2008 ergab jedoch, dass lediglich 8,2 % der Frauen eine interventionsfreie Geburt hatten (Schwarz, 2008). Es ist anzunehmen, dass dieser Anteil heute noch geringer ist.
In den vergangenen Jahrzehnten sind die geburtsmedizinischen Interventionsraten in den meisten Ländern mit hohem und mittlerem Einkommen kontinuierlich gestiegen (Daly et al., 2020; Betrán et al., 2021). Viele dieser Eingriffe sind mit schlechteren gesundheitlichen Ergebnissen und Folgeschäden für Mütter und Kinder verbunden (Kubjabi et al. 2022; Betran et al., 2021; Gaudernack et al. 2018; Miller et al. 2016).
Besonders Frauen aus der sogenannten Low-Risk-Gruppe – also jene, bei denen keine medizinischen Risikofaktoren vorliegen – sind häufig unnötigen Interventionen ausgesetzt, deren Nutzen wissenschaftlich nicht belegt ist (Bauer, 2011). Trotz zahlreicher internationaler Studien zur Wirksamkeit und den Risiken geburtsmedizinischer Eingriffe, werden die alarmierenden Ergebnisse in der Praxis bislang nur unzureichend berücksichtigt. Insbesondere in den Industrienationen wird nach wie vor viel zu oft in den Geburtsprozess eingegriffen (Miller et al. 2016; Kubjabi et al. 2022; Betrán et al., 2021).
Im Gegensatz dazu zeigen kontinuierliche hebammengeleitete und frauenzentrierte Betreuungsmodelle einen deutlich geringeren Einsatz medizinischer Interventionen – bei gleichzeitig besseren gesundheitlichen Ergebnissen für Mütter und Kinder (Fikre et al. 2023; Sandall et al. 2016; Sandall et al. 2016; Hodnett et al., 2013).
Reichhaltige Evidenz zur Förderung der physiologischen Geburt
Die Faktoren, die eine physiologische und salutogene Geburt fördern, sind gut erforscht. Neben interdisziplinärer Fachkompetenz, der Kunst der Geburtsbegleitung und personellen Ressourcen spielt vor allem eine respektvolle Haltung der begleitenden Fachkräfte eine zentrale Rolle – eine Haltung, die die Frau mit ihrem Kind, mit ihren Kompetenzen und Bedürfnissen in den Mittelpunkt stellt.
Die wissenschaftliche Evidenz zu den Maßnahmen, die die physiologische und salutogene Geburt fördern, wächst stetig, insbesondere durch die Forschung von Hebammenwissenschaftlerinnen zur Physiologie der Geburt (Krüger, 2024). Dabei zeigt sich, dass viele über Jahrhunderte bewährte Praktiken und angewandtes Erfahrungswissen durch aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse gestützt werden, das heißt, evidenzbasiert sind. Dazu gehört eine abwartende, nicht eingreifende Begleitung, solange keine Indikation für eine Intervention vorliegt. Dabei wird deutlich, dass nicht der Körper der Frau defizitär ist, sondern dass eine risikoorientierte, medikalisierte und interventionsreiche Geburtsmedizin, den physiologischen Geburtsverlauf stört und Schaden anrichtet, der die Gesundheit von Mutter und Kind gefährdet (Hertle et al., 2021).
Die Erforschung der biologischen und hormonellen Prozesse rund um die Geburt bestätigt, dass die physiologische Geburt ein bewährtes Erfolgsmodell der Natur ist und nachhaltige gesundheitsfördernde Effekte hat – insbesondere, wenn sie empathisch begleitet wird und die Ressourcen und Kompetenzen der Gebärenden im Fokus sind. Zunehmend fließen diese Evidenzen auch in Leitlinien ein, wie in die S-3-Leitlinie „Vaginale Geburt am Termin“ (AWMF, 2020). Bis diese Erkenntnisse jedoch flächendeckend in der Praxis umgesetzt werden, ist es noch ein langer Weg.
Elemente der Förderung der physiologischen Geburt und Salutogenese
Die Förderung der salutogenen Geburt erfordert ein tiefgehendes Verständnis der Physiologie des Geburtsprozesses in seiner Komplexität. Eine wesentliche Grundlage für die Geburtshilfe im Team bilden gemeinsame Werte bezüglich einer die Physiologie fördernden Geburtsbegleitung. Neben ausreichenden personellen Ressourcen für eine kontinuierliche Betreuung spielen weitere zentrale Elemente und Haltungen eine entscheidende Rolle. Sie tragen maßgeblich dazu bei, die Geburt als gesundheitsfördernden Prozess zu gestalten und die Kompetenzen der Gebärenden zu stärken. Diese essenziellen Aspekte werden im Folgenden vorgestellt.
Zeit, Geduld und Achtsamkeit – die Kunst des „gekonnten Nichtstuns“
Gebären bedeutet Sich-öffnen und Loslassen. Die Gebärende braucht einen geschützten Raum, in dem sie sich anvertrauen kann, damit sich die physiologischen Prozesse in ihrem komplexen Zusammenspiel entfalten können. Dieser „Seelenraum“ (siehe Video „Seelenraum, M2) bildet eine grundlegende Voraussetzung für eine salutophysiologische Geburtsbegleitung. Die Aufgabe der Hebamme ist es, diesen Raum zu schaffen, ihn zu halten und zu schützen.
Jede Geburt folgt ihrem eigenen Rhythmus. Die Normierung des Geburtsfortschritts in den 1950er Jahren durch den amerikanischen Geburtshelfer Emanuel Friedman führte zu einer Entindividualisierung der Geburtszeit. Die von ihm entwickelte, sogenannte „Friedman-Kurve“ definierte einen „normalen“ Geburtsfortschritt von 1 cm Muttermunderweiterung pro Stunde – eine Annahme, die auf einer „Studie“ mit 100 weißen Erstgebärenden beruhte. Ab den 1970er Jahren prägte diese Definition die Vorstellung von der „normalen“ Geburtsdauer, besonders im Kontext der programmierten Geburt. Entsprechend wurde bei Abweichungen von der Norm das Eingreifen, etwa durch die Gabe wehenfördernder Mittel oder Öffnen der Fruchtblase propagiert (Hertle et a. 2021). Es führte zu einer Begrenzung der Geburtsdauer und entsprechenden Diagnosen wie einer protrahierten, das heißt, „zu langsam verlaufenden“ Geburt oder einem „Geburtsstillstand“, was in den meisten Fällen weitere risikobehaftete Interventionen zur Folge hatte (Vogt, 2017).
Bis in die 1950er Jahre galt die gekonnte Nichtintervention als leitendes Prinzip der Geburtshilfe – der natürliche Prozess der Geburt sollte möglichst nicht gestört werden. Mit dem Wandel hin zum „aktiven Geburtsmanagement“ als leitender Maxime wurden medizinische Eingriffe in den Geburtsverlauf zunehmend zur Routine. Über Jahrzehnte orientierte sich die Ausbildung von Hebammen und Ärzt*innen an Friedmans Definition des „normalen“ Geburtsfortschritts. Die mit den Abweichungen verbundenen Eingriffe gehörten zur alltäglichen Praxis in der Geburtshilfe.
Neuere Forschungen bestätigen heute das alte Wissen und die Haltung der gekonnten Nichtintervention: Phasen der Pause im Geburtsverlauf sind nicht nur normal, sondern essenziell, denn sie haben als Prozesse der Anpassung vielfältige Funktionen. Die Ruhephasen dienen der Regulation der Mutter und unterstützen die feine Abstimmung in der Dynamik zwischen mütterlichem und kindlichem System. Häufig setzt die Wehentätigkeit nach dem Ausklingen der Ruhephase verstärkt wieder ein. Das bestätigt den positiven Effekt der Pause auf den physiologischen Geburtsverlauf. Eine abwartende Haltung ist daher nicht nur sinnvoll, sondern notwendig, solange keine Anzeichen für eine Pathologie vorliegen (Krüger, 2019).
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Die sichere Geburt Ausschnitt - Latenzphase (2:27 min) Download Video |
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Zeit und Geduld Was bedeutet es, dem Geburtsprozess die individuelle Zeit zu geben? Im Video berichten Hebammen, welche Haltung diese Geburtsbegleitung und die Teamarbeit braucht. Eine Ärztin schildert, wie sie diese Geburtskultur kennenlernte. Eine Frau erzählt, wie sie auf ihre Intuition hörte. (15:23 min) |
Vertiefende Artikel
- Josy Kühlberger: Latenzphase: die geschenkte Zeit. (ÖHZ 03/2020)
https://zeitung.hebammen.at/wp-content/uploads/sites/18/2020/09/HZ-3.2020-FIN-Josy-Latenzphase.pdf
- Nele Krüger: Fortschritt in der Pause (DHZ11/2019)
https://staudeverlag.de/vom-fortschritt-in-der-pause/
- Nele Krüger: Gebären ohne Zeitdruck (DHZ 9/2018) https://staudeverlag.de/gebaeren-ohne-zeitdruck/
Eins-zu-Eins-Betreuung – Das Potenzial hebammengeleiteter Betreuung zur Förderung der physiologischen Geburt
Das Konzept der Eins-zu-eins Betreuung steht für eine kontinuierliche Begleitung während des Geburtsprozesses – ein verlässliches Dasein, das Sicherheit und Unterstützung vermittelt. Im Gegensatz zur in deutschen Kreißsälen üblichen Parallelbetreuung, bei der eine Hebamme mehrere Gebärende gleichzeitig betreut, ermöglicht die Eins-zu-eins-Betreuung eine viel intensivere physische, mentale und emotionale Präsenz. In der englischen Hebammenwissenschaft wird diese Haltung als „Midwifery presence“ bezeichnet und gilt als zentrales Element der Hebammentätigkeit (Kennedy et al., 2010).
Diese Form der Betreuung umfasst unter anderem eine kontinuierliche psychosoziale Unterstützung (Hodnett et al., 2013), Informationen über den Geburtsfortschritt und Anleitung zu Bewegung und Entspannung. Zudem beinhaltet sie lindernde Maßnahmen dazu wie Massagen, das Begleiten beim Baden sowie das Fördern von Flüssigkeitsaufnahme und Ausscheidung. Entscheidende Bedeutung für das positive Erleben der Frauen hat insbesondere die Vertrautheit und die beruhigende Präsenz der Hebamme – vorausgesetzt diese enge Begleitung erfolgt im beidseitigen Einverständnis (Kirkham, 2010). Die Kontinuität der Eins-zu-eins-Betreuung kann sowohl durch eine einzige Person als auch durch ein Team erfolgen (Sandall et al. 2016).
Hebammengeleitete Betreuung bietet ein enormes Potenzial zur Förderung der Physiologie der Geburt und ist mit zahlreichen positiven Effekten verbunden: einer kürzeren Geburtsdauer, weniger anästhetischen und analgetischen Interventionen, einer geringeren Rate vaginal-operativer Geburten und einer niedrigeren Kaiserschnittrate (u.a.: Fikre et al., 2023; Sandall et al., 2016; Hodnett, 2013). Zudem zeigen Neugeborene eine bessere Vitalität (u.a.: Fikre et al., 2023; Sandall et al., 2016; Wong et al. 2015) und Frauen berichten über eine höhere Zufriedenheit und eine insgesamt positivere Geburtserfahrung (u.a.: Sandall et al., 2016; Hodnett et al., 2013).
Studien belegen, dass diese positiven Effekte der Eins-zu-eins-Betreuung – sowohl für die Ergebnisse von Mutter und Kind als auch für Interventionsrate und den Geburtsmodus – unabhängig davon auftreten, wer die kontinuierliche Begleitung leistet. Es bleibt unklar, ob die beständige Präsenz an sich oder die fachliche Kompetenz der Betreuungsperson die besonderen Wirkungen erzielt. Kontinuierliche Unterstützung kann auch durch eine Lai*in oder eine Doula erfolgen. Entscheidend sind Verlässlichkeit, Präsenz und parteiliche Unterstützung. Vor allem aber gilt: Frauen sollten während der Geburt, niemals allein gelassen werden (DPNQ, 2013), es sei denn sie wünschen es ausdrücklich.
Die beeindruckende Evidenz zur Eins-zu-eins-Betreuung zeigt, dass sie nicht nur für Mutter und Kind von großer Bedeutung ist, sondern auch das Wohlbefinden der betreuenden Hebammen fördert. Studien belegen, dass dieses Modell die Gesundheit, Zufriedenheit und das berufliches Wohlbefinden von Hebammen positiv beeinflusst (Fenwick et al., 2018; Dawson et al., 2018; Dixon et al., 2017), denn es ermöglicht ihnen, im Einklang mit ihren professionellen Werten zu arbeiten. Gemeinsam mit den Eltern erleben sie die existenzielle Dimension der Geburt und können sich dabei auf ihre Kernaufgabe konzentrieren. Im Gegensatz dazu führt die übliche Parallelbetreuung häufig zu Zerrissenheit und Frustration – dem Gefühl, dem Betreuungsauftrag nicht gerecht werden zu können.
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Eins-zu-eins - Betreuung Wie funktioniert die Eins-zu-eins-Betreuung? Welche Herausforderungen beinhaltet sie für die begleitenden Fachkräfte? Wie wird sie erlernt und was genau lernen die Auszubildenden in diesem Prozess? Im Video sprechen Studierende über ihre Lernerfahrungen, Hebammen erzählen von der Begleitung der Lernprozesse. (25:40 min) Download Video |
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Nele Rahel Krüger, 2025: |
Geburtshilfe ohne Angst – Wie entsteht Sicherheit?
Als existenzieller Übergang ist die Geburt und das Gebären mit tiefen Emotionen verbunden – mit Freude und Aufregung, aber auch mit Unsicherheit und Ängsten. Besonders bei der ersten Geburt ist da die Angst der Mutter vor dem Unbekannten und Unvorhersagbaren. Unsicherheiten und Ängste können körperliche und psychische Reaktionen auslösen, die den Geburtsvorgang hemmen oder auch gefährden können. Die neurobiologischen und hormonellen Wirkungen von Angst und Stress betreffen dabei nicht nur die Gebärende, sondern auch ihr Kind. Auch die begleitenden Angehörigen können durch Unsicherheit und Ängste belastet sein, was zu Hilflosigkeit und Schuldgefühlen führen kann.
Doch nicht nur Gebärende und Begleitpersonen, auch professionelle Geburtshelfer*innen sind nicht frei von Ängsten. Ihre Angst kann zu unterschiedlichen Reaktionen führen: von Erstarrung, Handlungsunfähigkeit oder Panik bis hin zu überstürztem Aktionismus. Unnötige Interventionen und daraus folgenden Interventionskaskaden können gefährliche Dynamiken auslösen, die zu einem fatalen Ausgang der Geburt führen können.
Was bedeutet Sicherheit unter der Geburt?
Viele Menschen verbinden eine sichere Geburt mit einer Klinikgeburt. Doch Sicherheit ist weit mehr als verfügbare Technologie. Entscheidend sind die Rahmenbedingungen – insbesondere die personellen Ressourcen und die Qualität der Betreuung. Studien belegen, dass in klinischen Settings eine hohe Zahl an Interventionen in den Geburtsverlauf vorgenommen werden, die Pathologien und Notfälle begünstigen können (u.a. Hertle et a. 2021). Sicherheit unter der Geburt braucht mehr als die Verfügbarkeit modernster Technologie, die im Notfall schnell und lebensrettend sein kann. Sie erfordert auch fundiertes geburtshilfliches Wissen, Erfahrung und vor allem ausreichende Betreuungskapazitäten, um mögliche Komplikationen frühzeitig zu erkennen und rechtzeitig zu handeln.
Die Daten der Gesellschaft für Qualität in der außerklinischen Geburtshilfe e.V. (QUAG) belegen, dass die außerklinische Geburtshilfe bei sorgfältiger Auswahl der Gebärenden sicher ist. Seit vielen Jahren zeigen die Erhebungen, dass Frauen mit unkomplizierten Schwangerschaften und ohne Geburtsrisiko, die in Geburtshäusern oder zu Hause gebären, weniger Interventionen erfahren und von einer höheren Zufriedenheit berichten (QUAG, 2022). Ein wesentlicher Faktor dabei ist die Kontinuität der Betreuung, die nicht nur das Wohlbefinden der Gebärenden, sondern auch ihre Sicherheit erhöht.
Sicherheit unter der Geburt wird häufig mit körperlicher Sicherheit von Mutter und Kind assoziiert und primär auf mögliche Notfälle bezogen. Zur Qualitätssicherung in einer geburtshilflichen Abteilung gehören regelmäßige Teamtrainings in sogenannten Skills-Labs, in denen Notfallsituationen simuliert und ausgewertet werden – ein Konzept, das die Sicherheit der Gebärenden und der betreuenden Fachkräfte definitiv erhöht. Gleichzeitig ist es essenziell, unterschiedliche Arten von Notfällen zu unterscheiden. Akute Notfälle, wie etwa lebensbedrohliche Blutungen nach der Geburt erfordern ein schnelles, besonnenes und koordiniertes Handeln, um das medizinisch Notwendige sofort einzuleiten.
Daneben gibt es jedoch auch Notfälle, die durch unnötiges Eingreifen in den Geburtsverlauf erst entstehen. So können nicht notwendige Interventionen Nebenwirkungen auslösen, die wiederum weitere Maßnahmen nach sich ziehen – eine sogenannte Interventionskaskade. So wird vermeidbare Pathologie erzeugt, die, insbesondere in Verbindung mit unzureichender Betreuung, zu dramatischen Geburtsverläufen führen kann. Nicht selten enden solche Dynamiken in einem „Notkaiserschnitt“, der bei einer zurückhaltenderen Geburtshilfe nicht nötig gewesen wäre. Oft wird die Operation den Eltern gegenüber als „Rettung“ von Mutter und Kind dargestellt und in vielen Fällen von den Geburtshelfer*innen selbst so empfunden. Dabei bleibt jedoch unbeachtet, dass der vermeintliche Notfall erst durch das vorangegangene Eingreifen entstanden ist (Hildebrandt, Göbel, 2025).
Was fördert Sicherheit unter der Geburt?
Sicherheit unter der Geburt betrifft alle Beteiligten, deshalb müssen die Bedürfnisse von allen berücksichtigt werden. Die Gebärende braucht einen geschützten Raum, in dem sie den Signalen und Bedürfnissen ihres Körpers folgen und auf ihre Kraft vertrauen kann. Sie sollte sich frei bewegen, ihre Position selbst wählen können und ermutigt werden, ihre Stimme einzusetzen, um den Atem zu begleiten. Eine kontinuierliche, vertrauensvolle Begleitung ist essenziell – eine Person, auf die sie sich verlassen kann, die bedingungslos parteilich an ihrer Seite steht, ihre Bedürfnisse ernst nimmt und für ihr Wohl sorgt. Die Gebärende sollte sich gehalten und beschützt fühlen. Auch sollte sie spüren können, dass es ihren begleitenden Angehörigen gut geht.
Partner*innen oder Angehörige brauchen eine tragende Struktur, die es ihnen ermöglicht, die Gebärenden zu unterstützen und gleichzeitig ihre eigenen Emotionen wahrzunehmen. Sind die Betreuungskapazitäten begrenzt, kann das dazu führen, dass Angehörige sich belastet und überfordert fühlen, weil sie das Gefühl haben, nicht hilfreich genug und gleichzeitig verantwortlich für die Gebärende zu sein. Wenn die Ängste der Angehörigen nicht wahrgenommen werden oder sie nicht gut in den Prozess eingebunden sind, kann auch das den Geburtsverlauf negativ beeinflussen. Deshalb ist es wichtig, Angehörige in ihrer Rolle aktiv in den Betreuungsprozess miteinzubeziehen, damit sie Vertrauen in den Geburtsprozess entwickeln und das Wohlbefinden der Gebärenden fördern können.
Auch die Mitglieder des geburtshilflichen Teams müssen die Möglichkeit haben, ihre Unsicherheit und Angst wahrzunehmen und untereinander offen darüber zu kommunizieren. Studien zeigen, dass die Sicherheit steigt, wenn Teammitglieder – unabhängig von Hierarchien – ihre Besorgnis kommunizieren und frühzeitig um Unterstützung oder eine Einschätzung der Situation bitten und gemeinsam überlegen: Wo stehen wir im Kontinuum zwischen Physiologie und Pathologie und welche Schritte sind jetzt sinnvoll? Sicherheit entsteht in einer partizipativen Teamkultur, in der gemeinsame Werte und geburtshilfliche Überzeugungen geteilt und Entscheidungen im Konsens getroffen werden (Egerth, 2021). Ein kooperativer Führungsstil, der Hierarchien abbaut, ist mit einer höheren Sicherheit assoziiert.
Für eine sichere und unterstützende Geburtsumgebung ist es essenziell, die Ängste aller Beteiligten wahr- und ernst zu nehmen. Nur wer sich sicher fühlt, kann eine Gebärende bestmöglich begleiten. Wenn alle Beteiligten sich sicher fühlen, entstehen die besten Voraussetzungen für eine physiologische Geburt – für das aktive Loslassens der Gebärenden und das „achtsame Nichtstun“ bei den Fachkräften. Und ebenso wie für eine wohlüberlegte Intervention, falls sie notwendig sein sollte.
Respektvolle Betreuung und Sicherheit
Die britische Professorin für Hebammenkunde, Lesly Page betont: „Bei der Humanisierung der Geburt geht es sehr stark darum, unseren Illusionen und vielleicht auch Wahnvorstellungen ins Auge zu sehen, was Sicherheit bedeutet“ (Page. 2019). Sicherheit und respektvolle Begleitung stehen in einem unmittelbaren Zusammenhang. Ohne respektvolle Begleitung gibt es keine echte Sicherheit für die Gebärende mit ihrem Kind und ohne Sicherheit werden grundlegende Menschenrechte verletzt.
Die „12 Schritte zu einer sicheren und respektvollen Mutter-Baby-Geburtsbetreuung“ der International Childbirth Initiative (ICI, 2020) verdeutlichen: Respekt vor der Geburt als vulnerables und kraftvolles Geschehen erfordert, dass ein sicherer Ort und eine respektvolle kompetente Begleitung zu Verfügung stehen. Die Wahrung fundamentaler Rechte rund um die Geburt ist nicht nur eine menschenrechtliche Verpflichtung, sondern die entscheidende Voraussetzung für die Entfaltung des großen gesundheitsfördernden Potenzials von Schwangerschaft, Geburt und Elternwerden.
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Geburtshilfe ohne Angst – Wodurch entsteht Sicherheit? Eine Geburt ist nicht vorhersagbar. Unsicherheit und Angst der Gebärenden und manchmal auch der Begleitenden gehören zur Geburtshilfe – Angst vor unerwarteten Notfallsituationen, vor juristischen Konsequenzen oder die Angst als Berufsanfängerin in der klinischen oder außerklinischen Geburtshilfe. Welche Kompetenzen braucht es, um damit umzugehen? Und wie entsteht Sicherheit? (20:16 min) Download Video |
Geburt in Bewegung – Die Vorteile aufrechter Geburtspositionen
Die Geburt ist ein dynamischer Prozess, bei dem das Kind durch Einstellen, Drehen und Bewegen seinen Weg durch das mütterliche Becken findet. Diesen Prozess kann die Gebärende aktiv unterstützen – durch eine aufrechte Haltung, Bewegung und gezielte Positionswechsel. Insbesondere in der Eröffnungs- und der aktiven Geburtsphase wirken sich Bewegung und eine aufrechte Haltung positiv aus: Sie verkürzen die Geburtsdauer und fördern die Gesundheit von Mutter und Kind.
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Geburtsmechanismus (3:15 min) Download Video |
Studien belegen, dass eine aufrechte Geburtshaltung das Risiko für eine Periduralanästhesie, einen Kaiserschnitt oder eine vaginal-operative Geburtsbeendigung (durch Saugglocke oder Geburtszange) deutlich senkt. Auch die Wahrscheinlichkeit eines Dammschnitts nimmt ab, während kindliche Herztonmuster seltener Auffälligkeiten zeigen (Lawrence, 2013; Gupta et al.2017; Kemp et al. 2013).
Die S3-Leitlinie „Vaginale Geburt am Termin“ (AWMF 2020) unterstreicht die Vorteile aufrechter Geburtspositionen und empfiehlt, Frauen entsprechend zu beraten und zu ermutigen. Die Förderung eines physiologischen Geburtsverlaufs bedeutet nicht nur, der Gebärenden Bewegungsfreiheit zu ermöglichen, sondern sie auch darin zu bestärken, ihre Geburt aktiv mitzugestalten. Ob eine Geburt in Bewegung stattfindet, hängt nicht nur von den räumlichen Gegebenheiten oder der Motivation der Frau ab, sondern vor allem von einer einfühlsamen, unterstützenden und präsenten Begleitung.
Vertiefende Artikel
- Tara Franke: Machtposition über Gebärposition DHZ 3/22
https://staudeverlag.de/machtposition-ueber-gebaerposition/
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Ein Konzept für die Latenzphase: Entwicklung und Pilotierung des Geesthachter Geburtszirkels© |
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Mutter und Kind als Partner im Geburtsprozess (5:01 min) Download Video |
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Filmauschnitt aus „Lebendige Geburt“ Geburtsvorbereitung im Wasser bedeutet neben körperlicher Entspannung, Entlastung der Wirbelsäule und einer verbesserten Durchblutung auch eine Steigerung des Körperbewusstseins. Kombiniert mit einer psychologischen Vorbereitung, die die Zusammenarbeit von Mutter und Kind im Geburtsprozess fokussiert und visualisiert, stärkt diese ganzheitliche Körperarbeit das Selbstbewusstsein und die pränatale Bindung. Im Video berichten Frauen, wie sie diese Vorbereitung und ihre Geburt erlebt haben. (6:31 min) Download Video |
Spätes Abnabeln – Lebenswichtige Ressource für das Neugeborene
Nach der Geburt sollte das Baby erst abgenabelt werden, wenn die Nabelschnur vollständig auspulsiert ist. Das späte Abnabeln erleichtert dem Neugeborenen den Übergang zur selbstständigen Atmung, es erhöht sein Blutvolumen um 30 % und die Zahl der roten Blutkörperchen um 60 %. Diese zusätzlichen Reserven bergen eine Reihe von gesundheitlichen Vorteilen: Die Sauerstoffsättigung verbessert sich und das Risiko für eine Anämie im Alter von 8 -12 Monaten ist verringert. Besonders Frühgeborene profitieren vom späten Abnabeln. Während man diese Kinder früher unmittelbar nach der Geburt abnabelte, um sie so rasch wie möglich dem neonatologischen Team zur Versorgung zu übergeben, weiß man heute, dass das späte Abnabeln eine entscheidende Maßnahme zur Senkung der Sterblichkeit ist. Es reduziert die Mortalität von Frühgeborenen um ein Drittel (Seidler et al, 2023). Diese Evidenz sprechen klar für ein zurückhaltendes Vorgehen in der Nachgeburtsperiode.
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Die sichere Geburt Ausschnitt - Spätes Abnabeln (4:39 min) Download Video |
Empowerment und Ressource – Die nachhaltige Bedeutung der Geburtserfahrung für die Frauen- und Familiengesundheit
Eine respektvolle und unterstützende Betreuung ist ein Schlüsselfaktor für eine positive Geburtserfahrung. Sie kann das Risiko für postpartale Depressionen und posttraumatische Belastungsstörungen senken und trägt maßgeblich zur mentalen Gesundheit der Mutter bei. Viele Frauen erleben eine positive Geburtserfahrung als stärkend und ermächtigend – sie gibt ihnen das Vertrauen, auch andere Herausforderungen bewältigen zu können (Sayn-Wittgenstein, 2007). Zudem berichten sie häufiger über ein gesteigertes Wohlbefinden und eine intensivere Bindung zu ihrem Kind (Märthesheimer, 2024).
Auch das Stillverhalten kann durch die Geburtserfahrung beeinflusst werden. Die Art der Geburt, die Unterstützung während des Geburtsverlaufs und die Förderung der Mutter-Kind-Bindung in den ersten Stunden danach spielen dabei eine wesentliche Rolle.
Nicht nur für die Mütter, auch für Väter und Partner*innen hat die Geburtserfahrung weitreichende Wirkungen. Während eine belastende Geburtserfahrung auch bei ihnen zu Stress und depressiven Symptome im postnatalen Zeitraum führen kann, stärkt eine positive Geburtserfahrung ihr psychisches Wohlbefinden und fördert die emotionale Bindung zum Kind (Genesoni et al., 2009).
Vertiefende Artikel
- Rainhild Schäfers: Einfluss des Geburtserlebens auf die subjektiv Gesundheitseinschätzung von Frauen (Open access)
- WHO recommendations Intrapartum care for a positive childbirth experience. https://www.quag.de/quag/empfehlungen.htm
Bonding und Stillförderung – Die WHO/UNICEF-Initiative Babyfreundliches Krankenhaus
Stillen ist von hohem gesundheitlichem Wert und reduziert das Risiko für zahlreiche Erkrankungen bei Mutter und Kind. Gestillte Säuglinge sind im Kindes- und Erwachsenenalter seltener übergewichtig und haben ein geringeres Risiko, an Diabetes Typ 2 zu erkranken, als nicht Gestillte. Auf Seiten der Mutter reduziert Stillen nicht nur das Risiko für Krebserkrankungen der Brust, der Eierstöcke und der Gebärmutterschleimhaut, sondern auch das Risiko für Diabetes Typ 2 und Herz- und Gefäßerkrankungen (BMEL 2025).
Trotz dieser beeindruckenden Vorteile zeigt sich eine deutliche Diskrepanz zwischen Stillabsicht und Stilldauer. Während fast 90 % der Schwangeren die Absicht haben, ihr Kind zu stillen, stillen nach der Geburt nur 68 % der Mütter ihr Kind ausschließlich. Nach zwei Monaten sinkt die Quote auf 47 % und vier Monate nach der Geburt stillen nur noch 40 % der Mütter voll. Diese Zahlen verdeutlichen, dass Mütter deutlich mehr Unterstützung benötigen, um erfolgreich und langfristig zu stillen.
Um das volle Gesundheitspotential von Bonding und Stillen für Neugeborene und ihre Mütter optimal zu fördern, wurde 1991 die Baby-friendly Hospital Initiative (BFHI) von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und dem Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen (UNICEF) ins Leben gerufen. Ziel des Programms ist es, in Kliniken eine stillfreundliche und bindungsfördernde Umgebung zu schaffen, die Mütter und Neugeborene von Anfang an bestmöglich unterstützt. Dies erfordert nicht nur engagiertes Personal, sondern auch fundiertes Wissen und kontinuierliche Schulungen. Kliniken, die die hohe Qualitätsstandards nachweislich erfüllen, erhalten die Zertifizierung als „Babyfreundliches Krankenhaus“.
Die Standards sind in 10 Schritten festgelegt. Sie sollen sicherstellen, dass die Strukturen und Abläufe eng an die Bedürfnisse von Müttern, Babys und Familien angepasst sind und so die Bindung und das Stillen unterstützen. Dazu gehört unter anderem eine umfassende Beratung und Anleitung der Eltern, ungestörter Hautkontakt von Mutter und Kind nach der Geburt sowie 24-Stunden-Rooming-in. Die Familien werden dabei unterstützt, die Signale ihres Babys zu verstehen und sensibel darauf zu reagieren.
Die zehn Schritte zum erfolgreichen Stillen
- Schritt 1: Richtlinien, Kodex und Datenmonitoring
Die Kliniken haben schriftliche Richtlinien zur Umsetzung der 10 Schritte zum erfolgreichen Stillen von WHO und UNICEF und besprechen diese regelmäßig intern. Der internationale Kodex für die Vermarktung von Muttermilchersatzprodukten wird eingehalten. Ein Datenmonitoring wird etabliert. - Schritt 2: Schulungen
Alle Mitarbeitenden werden regelmäßig geschult, so dass sie über die notwendigen Kenntnisse und Fähigkeiten zur Umsetzung der 10 Schritte verfügen. - Schritt 3: Informationen
Alle schwangeren Frauen bzw. werdenden Eltern werden über Bedeutung und Praxis des Stillens sowie die Bindungs- und Entwicklungsförderung informiert. - Schritt 4: Hautkontakt
Der Mutter wird ermöglicht, unmittelbar ab Geburt ununterbrochen Hautkontakt mit ihrem Baby zu haben, mindestens eine Stunde lang – gerne länger – bzw. bis zum ersten Stillen. - Schritt 5: Stillbeginn
Den Müttern wird das korrekte Anlegen gezeigt und es wird ihnen erklärt, wie sie ihre Milchproduktion anregen und aufrechterhalten können. - Schritt 6: Zufütterung
Gestillten Neugeborenen wird weder Flüssigkeit noch sonstige Nahrung zusätzlich zur Muttermilch gegeben – sofern nicht medizinisch indiziert. - Schritt 7: Rooming-in
Es wird 24-Stunden-Rooming-in praktiziert und die Möglichkeit geschaffen, dass Mutter und Kind Tag und Nacht zusammenbleiben. - Schritt 8: Feinfühlige Betreuung
Die Eltern werden aktiv dabei unterstützt, die Signale ihres Kindes zum Stillen bzw. Füttern zu erkennen und angemessen darauf einzugehen. - Schritt 9 Aufklärung
Eltern werden zu Gebrauch und möglichen Nachteilen von Flaschen, Saugern und Schnullern beraten. - Schritt 10 Fortlaufende Unterstützung
Die Kliniken informieren die Familien im Rahmen des Entlassmanagements über Möglichkeiten der fortlaufenden Unterstützung und Betreuung.
Weitere Voraussetzungen für die Zertifizierung
- Alle Fachkräfte, die mit Mutter und Kind arbeiten, müssen umfassend geschult werden.
- Werbung für Unternehmen, die unter den WHO-Kodex fallen, ist untersagt – insbesondere für Hersteller von Babynahrung, Flaschen und Saugern.
Seit 1990 haben weltweit etwa 20.000 Geburtsklinken die Auszeichnung „Babyfreundliches Krankenhaus“ erhalten. In Deutschland wird das Programm von der Initiative Babyfreundlich betreut. Eine Liste der zertifizierten Krankenhäuser ist unter www.babyfreundlich.org einsehbar. Auch Kinderkliniken sowie Perinatalkliniken (Geburtshilfe und Neonatologie) könnten sich zertifizieren lassen.
Weiterführende Informationen
- www.babyfreundlich.org
- https://www.babyfreundlich.org/fachkraefte/angebote/fachinformationen/
- www.nationalestillfoerderung.de
Reflexionsfragen
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Literatur
Antonovsky, A. (1997). Salutogenese. Zur Entmystifizierung der Gesundheit. Tübingen: DGVT.
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