Geburt als existenzielles Ereignis
Geburt als existenzielles Ereignis – anthropologische und philosophische Perspektiven
Gebären und Geborenwerden sind anthropologische Grundkonstanten, sie gehören zu den universellen und fundamentalen menschlichen Erfahrungen. Unser aller Anfang ist eine Grenzerfahrung – für die Gebärende eine Überschreitung ihrer eigenen Grenzen, für das Kind der Übergang in eine neue Welt. Gleichzeitig ist die Geburt ein soziales Ereignis, das nicht nur diese beiden Menschen, sondern auch die Gemeinschaft um sie herum prägt und verändert.
Der Anfang ist Beziehung – er ereignet sich in Beziehung. „Wir sind Geborene“, sagt die Philosophin Hannah Arendt. Mit diesem Gedanken rückt sie damit den Begriff der Natalität, das Geborensein, ins Zentrum des Nachdenkens über das Wesen des Menschseins. Indem sie den Menschen von seinem Anfang her denkt – und nicht, wie das bis dahin vorherrschende philosophische Denken, von seiner Sterblichkeit ausgeht – eröffnet sie eine neue Perspektive: „Weil jeder Mensch ein Initium, ein Anfang und Neuankömmling in der Welt ist, können wir Initiative ergreifen, Anfänger werden und Neues in Bewegung setzen“ (Arendt, 1960, S. 224). Damit betont Arendt die Bedeutung der Natalität als Grundlage für die menschliche Fähigkeit, durch Handeln Neues zu schaffen und die Welt aktiv mitzugestalten – als grundlegende Möglichkeit, immer wieder neu zu beginnen.
Tatsächlich ist die Geburt nicht der Beginn unseres Lebens. Wir kommen nicht als unbeschriebenes Blatt zur Welt. Bereits die pränatale Zeit im Leib der Mutter – der „Ersten aller Welten“ (Zurborn, Angheleddu, 2004) formt und prägt uns tief. Wissenschaftliche Erkenntnisse aus der Epigenetik und der pränatalen Psychologie zeigen, dass die vorgeburtliche Lebensphase entscheidenden Einfluss auf Körper und Seele hat.
In Beziehung
Wie der Ursprung und die pränatale Zeit ist auch die Geburt wesentlich ein Beziehungsgeschehen. „Beziehung ist der Anfang“, sagt die italienische Philosophin Adriana Cavarero (1997). Beziehung ist der Ursprung unseres Seins, jede menschliche Existenz gründet in Beziehungen. Wir entstehen und wachsen in einer Beziehung und werden aus dieser Beziehung geboren. Die Geburt eines Menschen bringt nicht nur neues Leben in die Welt, sondern schafft und transformiert Beziehungen. Sie entbindet und verbindet zugleich: Aus der ursprünglichen Einheit mit der Mutter tritt das Kind in ein neues Geflecht von Beziehungen, die im besten Fall mit Sorge tragen für das Wohl von Mutter und Kind. Ohne eine enge postnatale Beziehung würden wir nicht überleben. Vom allerersten Anfang an ist Beziehung die fundamentale Voraussetzung und Bedingung unserer Existenz.
Auch das Geburtsgeschehen selbst ist in den meisten Fällen in einen sozialen Kontext eingebunden. Die Geburt findet in einer Beziehung statt – zu Begleitpersonen, Fachkräften und dem Kind, das geboren wird. Wer selbst geboren, eine Geburt begleitet oder beobachtet hat, weiß, wie entscheidend Beziehungen dieses existenzielle Ereignis prägen.
Generative Verortung
Geborenwerden bedeutet Ent-Bindung von jemandem und Ver-Bindung mit jemandem. Das Wieder-Verbinden nach der Geburt – in der Psychologie und Geburtshilfe als „Bonding“ bezeichnet – ist ein Wiederanknüpfen und sich Neufinden zwischen Mutter und Kind. Diese Verbindung ist essenziell, denn sie legt die existenzielle Grundlage für das Überleben und die emotionale Entwicklung des Kindes.
Darüber hinaus begründet diese Verbindung auch die generative Verortung des einzelnen in Familie und Welt. Die Philosophin Christina Schues spricht von einer grundlegend doppelten Beziehungsstruktur dieser generativen Erfahrung als einer Frage der Herkunft („Von wem bin ich geboren?“ oder „Woher komme ich?“) und der Verbundenheit („Mit wem bin ich geboren?“) in dem sie sagt: „Die Geburt verortet den Menschen als Geborenen in einem mitmenschlichen Zusammenhang auf der Welt. Deshalb bedeutet das Geborensein eine generative Verortung in der Welt“ (Schues, 2012, S.211). In der horizontalen und vertikalen Verortung in einer Kette von Generationen schafft das neugeborene Kind neue Beziehungen. Es verändert den Status seiner Verwandten – Eltern, Großeltern, Tanten und Onkel werden „geboren“.
Übergang
Übergänge von einem sozialen Status in einen anderen gelten in allen Kulturen als heikel und gefährlich, als eine Phase der Fragilität und Labilität. Das aus der Ethnologie stammende Konzept der Liminalität (van Gennep, 1909) besagt, dass insbesondere die Phase des Übergangs selbst, an der Schwelle zu einem neuen Status, in der sich die Individuen zwischen den sozialen Rollen befinden, mit einer besonderen Verletzbarkeit verbunden ist. Deshalb sind sie mit Ritualen verbunden, die Schutz und Stabilität geben und Gefahren abwehren sollen. Der Übergang braucht zudem eine erfahrene Begleitung und eine schützende Gemeinschaft (Douglas, 1974). Die Ethnologin Maja Nadig (1986) bezeichnet diese Gemeinschaft um die Gebärende, die sie bei der teilnehmenden Beobachtung von Geburten bei den Mayas erlebte, als „Communitas“. Damit bezeichnet sie eine Halt gebende und gleichzeitig dynamische Struktur, die Sicherheit und Raum für Veränderung bietet.
Aufbruch ins Ungewisse
Geborenwerden und Gebären sind Aufbrüche ins Unbekannte – für beide Seiten. Als Übergang aus dem Leib der Mutter in die Außenwelt unterbricht die Geburt die bisherige enge Verbindung und die Kontinuität der Versorgung. Gleichzeitig unterbricht und verändert sie das Leben derjenigen, denen einen Kind geboren wird (Schues, 2012). Etwas Neues beginnt – unwiderruflich für ein Kind und seine Eltern. Dieses Neue ist mit Ungewissheiten und Unwägbarkeiten verbunden. Und diese Herausforderung wird das Leben begleiten. So wie am nicht plan- und nicht berechenbaren Anfang, wird es immer wieder darum gehen, sich einzulassen auf das Unbekannte und Ungewisse, auf das, was noch nicht gewusst, geplant und kontrolliert werden kann (Merguay, 2014). Immer wieder braucht der Übergang Vertrauen – in die Prozesse des Wachsens und der Veränderung, in die eigene Kraft und in das Gelingen.
Kraftvoll und verletzlich
Ein Kind zu gebären, ist ein gewaltiges, kraftvolles Geschehen. Es offenbart das beeindruckende Potenzial des weiblichen Körpers. Gleichzeitig ist Gebären mit einer großen Verletzbarkeit verbunden. Es erfordert Hingabe, Loslassen und Vertrauen in die Kräfte des eigenen Körpers und der Natur. Dieser Prozess des aktiven Geschehenlassens braucht Schutz, Geborgenheit und Respekt. Und ebenso essenziell für die allermeisten Gebärenden eine erfahrene Begleitung, die einen „Seelenraum“ (siehe Modul 4: Video „Seelenraum“ sowie Artikel „Geborgenheit schaffen – Gebären braucht einen Seelenraum“ (Stone) öffnet und hält. Eine Begleitung, die parteilich für die Gebärende eintritt, sie achtsam und kenntnisreich beschützt, mit Zeit und Geduld beobachtet und ihr beisteht. Eine Expert*in, erfahren in der Kunst des „achtsamen Nichtstuns“ (siehe Modul 6: Elemente der Förderung der physiologischen Geburt und Salutogenese), die weiß, wann Zurückhaltung geboten ist und wann wohlüberlegtes Eingreifen notwendig ist.
Nachdenken über Geburt
Jede Geburt ist einzigartig. Jedes Mutter-Kind-Paar hat seinen eigenen Prozess. Immer wieder gilt es, dieser Einzigartigkeit gerecht zu werden: Was braucht diese Gebärende mit ihrem Kind in diesem Moment? Auch das Umfeld der Gebärenden, die vertrauten Personen, die sie begleiten, muss gesehen und einbezogen werden, um einen Raum des Vertrauens zu schaffen.
Nachdenken über Geburt als existenzielles Ereignis und anthropologische Grundkonstante, bedeutet, kritisch zu hinterfragen, wie Gebären und Geborenwerden in einer Gesellschaft, in einem bestimmten kulturellen Kontext, gestaltet wird. Werden wir der Geburt als Grenzen überschreitendem leiblichem, psychosozialem und spirituellem Ereignis gerecht?
Ermöglichen wir einen guten Anfang?
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Birgit Heimbach: |
Reflexionsfragen
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Literatur
Arendt, H. (1960). Vita activa oder Vom tätigen Leben. Stuttgart: Kohlhammer.
Cavarero, A. (1997). Schauplätze der Einzigartigkeit. In S. Stoller & H. Vetter (Hrsg.), Phänomenologie und Geschlechterdifferenz (S. 207-226). Wien: Facultas.
Douglas, M. (1974). Ritual, Tabu und Körpersymbolik. Sozialanthropologische Studien in Industriegesellschaft und Stammeskultur. Stuttgart: Fischer.
Mergeay, C. (2014). Visionen zur Förderung der normalen Geburt. Vortrag auf dem Fachtag „Zeit zu handeln: Die Kaiserschnittrate senken – die normale Geburt fördern“, veranstaltet vom Arbeitskreis Frauengesundheit (AKF), Berlin, 20. Juni 2014. Verfügbar unter https://www.arbeitskreis-frauengesundheit.de/2014/06/20/visionen-zur-foerderung-der-normalen-geburt-von-colette-mergeay/ ;
Nadig, M. (1986). Die verborgene Kultur der Frau. Stuttgart: Fischer.
Schues, C. (2012). Philosophie der Geburt. In S. Hildebrandt, J. Schacht & H. Blazy (Hrsg): Wurzeln des Lebens. Die pränatale Psychologie im Kontext von Wissenschaft, Heilkunde, Geburtshilfe und Seelsorge (S. 210-219). Heidelberg: Mattes-Verlag.
Van Gennep, A. (1909). Les Rites de Passage. Émile Nourry.
Zurborn, E.A., & Angheleddu, G. (2004). Die erste aller Welten [Film], Deutschland
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