Freischneiden und "Actio= Reactio"
2. Freischneiden
Freischneiden
Reaktionsgrößen, wie z.B. Lagerkräfte oder Lagermomente oder Kräfte in Verbindungselementen, kannst du sichtbar machen, indem du einen Körper gedanklich von seinen Bindungen löst. Diesen Vorgang nennt man Freischneiden. Dazu führst du zunächst an den entsprechenden Stellen einen Schnitt durch, zeichnest die durch den Schnitt getrennten Systemteile ein Stück weit auseinander nochmal hin und trägst die an der Schnittstelle wirkenden Kräfte und Momente ein. Die Zeichnung die du in diesem Prozess erstellst, nennt man Freikörperbild.
An den folgenden beiden Beispielen, siehst du, wie genau das Freischneiden und das Erstellen eines Freikörperbilds funktioniert.
Das linke System besteht aus einem Balken, der von seiner Umgebung getrennt wird.
Das rechte System besteht aus zwei Balken, die miteinander gelenkig verbunden sind. Sie werden durch Freischneiden voneinander und von der Umgebung getrennt.

Schritt für Schritt zum Freikörperbild: zwei Beispiele
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Johanna Peters - Mechanik hautnah | TU Hamburg
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Es lohnt sich, wenn du dir gleich von Anfang an ein systematisches Vorgehen angewöhnst, um ein Freikörperbild zu erstellen:
- Schritt 1:
Positionen im Systembild einzeichnen, bei denen du Schnitte setzt, um das System von der Umgebung zu trennen.
Das gleich gilt natürlich auch für Schnitte, mit denen du Systemkomponenten voneinander trennst, wie im Beispiel rechts.
- Schritt 2:
Die Systemteile, die du von einander trennst, mit Abstand noch einmal hinzeichnen.
Nimm gleich von Anfang an lieber zu viel als zu wenig Abstand. Beim Einzeichnen der Reaktionsgrößen im nächsten Schritt wird es sonst oft eng. Und es wäre ja schade, wenn du nur wegen einer Miniaturzeichnung, die unübersichtlich ist, Fehler machst, oder? Ich spreche da übrigens aus Erfahrung.
- Schritt 3:
An den Schnittstellen alle Reaktionsgrößen einzeichnen, die dort übertragen werden können.
Hierbei berücksichtigst du das Gegenwirkungsprinzip, wofür man auch kurz "Actio = Reactio" sagt. Das schauen wir uns im nächsten Abschnitt noch genau an.
Ich habe im linken und im rechten System bewusst unterschiedliche Koordinatensysteme gewählt.
Wenn Freischneiden für dich noch ganz neu ist, konzentriere dich erstmal nur auf das linke System.

Schritt für Schritt zum Freikörperbild: zwei Beispiele: letzter Schritt: Koordinatensystem einführen und Reaktionsgrößen benennen
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Beim systematischen Vorgehen muss also noch Schritt 4 ergänzt werden:
- Schritt 4:
Koordinatensystem einführen und Reaktionsgrößen geeignet benennen.
Vielleicht hast du dich schon mal gefragt, ob es eine Rolle spielt, wie, also in welche Richtungen, du die Reaktionsgrößen beim Freischneiden einzeichnest?
Ich habe mal ein einfaches System genommen und zwei unterschiedliche Varianten durchgespielt:
- links habe ich am Körper alle Reaktionsgrößen in positive Achsrichtung angenommen;
- rechts habe ich ein Mischmasch an Richtungen gewählt, weshalb ich diese Variante "freestyle" genannt habe.

Auswirkung der Wahl der Richtungen der Reaktionsgrößen beim Freischneiden
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Es gibt also kein 'richtig' oder 'falsch' beim Einzeichnen der Richtungen von Reaktionsgrößen im Freikörperbild (Natürlich musst du Actio = Reactio beachten !!!): eingezeichnete Richtungen und erhaltene Vorzeichen musst du immer zusammen betrachten. Wenn dir also jemand auf der Straße ein Ergebnis von "A=500N" für die Lagerkraft A schenkt, kannst du mit dieser Information nicht viel anfangen, es sei denn, du kennst auch das Freikörperbild dazu.
Natürlich ist es naheliegend, sich auch beim Freischneiden irgendein schematisches Vorgehen anzugewöhnen. Dann muss man weniger nachdenken: Ich zeichne die Reaktionsgrößen am betrachteten Körper immer in positive Koordinatenrichtung ein.
Das geht natürlich nur, so lange ein System nur aus einem Körper besteht, wie es in Variante 1 des Beispiels von eben der Fall ist.
Besteht ein System aus mehreren Körpern, die mit Verbindungselementen verbunden sind, geht das natürlich nicht mehr. Hier sind zwei Körper mit einem Gelenk verbunden: Am Körper I zeigen die Gelenkräfte in positive Koordinatenrichtungen. Am Gelenk müssen die Kräfte wegen "Actio = Reactio" in negative Koordinatenrichtungen zeigen.
Auch gibt es die Konvention, dass Stäbe immer auf Zug freigeschnitten werden. Beim Fachwerk bedeutet das z.B. das alle Stabkräfte "vom Knoten weg" zeigen. Das wirst du im Kapitel Fachwerk noch genau kennenlernen.
Wenn es beim Weiteren Arbeiten mit statischen Systemen darum geht, Berechnungen auszuführen, also z.B. die Reaktionsgrößen auszurechnen, ist das Schnittprinzip sehr hilfreich.
Das Schnittprinzip besagt, dass wenn sich ein mechanisches System im Gleichgewicht befindet, dass dies dann auch für jedes herausgeschnittene Teilsystem gilt, so lange an den Schnittstellen geeignete Kräfte und Momente berücksichtigt werden.Ich habe dir in der folgenden Abbildung einmal die drei Teilsysteme des rechten Beispiels markiert, die durch das Freischneiden entstanden sind.

Veranschaulichung des Schnittprinzips: Gesamtsystem und Teilsysteme im Gleichgewicht
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Zusammenfassung - Das Wichtigste in Kürze
Ein Freikörperbild wird erstellt, um Reaktionskräfte und innere Kräfte in einem mechanischen System sichtbar zu machen und dann auch berechnen zu können.
Beim Freischneiden werden vier Schritte ausgeführt:
- Positionen im Systembild einzeichnen, bei denen du Schnitte setzt.
- Die durch den/die Schnitt/e getrennten Systemteile noch einmal mit viel Abstand aufzeichnen.
- An den Schnittstellen wirkende Kräfte und Momente (Reaktionsgrößen) unter Berücksichtigung von "Actio = Reactio" einzeichnen.
- Ein Koordinatensystem wählen (wenn in der Aufgabe keins vorgegeben ist) und die Reaktionsgrößen geeignet benennen.
Schnittprinzip
Befindet sich ein mechanisches System im Gleichgewicht, so gilt das auch für jedes daraus freigeschnittene Teilsystem, wenn an den Schnittstellen geeignete Kräfte und Momente berücksichtigt werden.
Das bedeutet wiederum, dass du für jedes Teilsystem einzeln die Gleichgewichtsbedingungen aufstellen und auswerten kannst.