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Freischneiden und "Actio= Reactio"

Website: Hamburg Open Online University
Kurs: Mechanik hautnah
Buch: Freischneiden und "Actio= Reactio"
Gedruckt von: Guest user
Datum: Sonntag, 8. Juni 2025, 03:28

1. Einleitung

Einleitung

Zwei Prinzipien, das Schnittprinzip und das Gegenwirkungsprinzip sind fundamental für das 'handwerkliche' Arbeiten mit Systemen in der Statik.

Deshalb findest du in diesem Baustein eine Lektion zum Thema Freischneiden und Schnittprinzip und eine Lektion zum Thema Actio = Reactio/Gegenwirkungsprinzip.

Das Schnittprinzip liefert die Basis dafür, dass Systeme freigeschnitten und damit innere Kräfte und Momente im ersten Schritt sichtbar gemacht und dann im zweiten Schritt auch berechnet werden können. Das Gegenwirkungsprinzip, das auch unter 'Actio = Reactio' oder als 3. Newtonsches Axiom/Gesetz bekannt ist, gibt klar an, wie die inneren Kräfte und Momente beim Freischneiden zu berücksichtigen sind.

Das nur kurz vorab. Wir schauen uns natürlich beide Prinzipien und die Vorgehensweisen detailliert und mit vielen Beispielen an. Material zum Selberüben findest du natürlich auch in diesem Kapitel.


2. Freischneiden

Freischneiden

Reaktionsgrößen, wie z.B. Lagerkräfte oder Lagermomente oder Kräfte in Verbindungselementen, kannst du sichtbar machen, indem du einen Körper gedanklich von seinen Bindungen löst. Diesen Vorgang nennt man Freischneiden. Dazu führst du zunächst an den entsprechenden Stellen einen Schnitt durch, zeichnest die durch den Schnitt getrennten Systemteile ein Stück weit auseinander nochmal hin und trägst die an der Schnittstelle wirkenden Kräfte und Momente ein. Die Zeichnung die du in diesem Prozess erstellst, nennt man Freikörperbild.

An den folgenden beiden Beispielen, siehst du, wie genau das Freischneiden und das Erstellen eines Freikörperbilds funktioniert.

Das linke System besteht aus einem Balken, der von seiner Umgebung getrennt wird.

Das rechte System besteht aus zwei Balken, die miteinander gelenkig verbunden sind. Sie werden durch Freischneiden voneinander und von der Umgebung getrennt.


Schritt für Schritt zum Freikörperbild: zwei Beispiele

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Es lohnt sich, wenn du dir gleich von Anfang an ein systematisches Vorgehen angewöhnst, um ein Freikörperbild zu erstellen:

  • Schritt 1:
    Positionen im Systembild einzeichnen, bei denen du Schnitte setzt, um das System von der Umgebung zu trennen.
    Das gleich gilt natürlich auch für Schnitte, mit denen du Systemkomponenten voneinander trennst, wie im Beispiel rechts.
  • Schritt 2:
    Die Systemteile, die du von einander trennst, mit Abstand noch einmal hinzeichnen.
    Nimm gleich von Anfang an lieber zu viel als zu wenig Abstand. Beim Einzeichnen der Reaktionsgrößen im nächsten Schritt wird es sonst oft eng. Und es wäre ja schade, wenn du nur wegen einer Miniaturzeichnung, die unübersichtlich ist, Fehler machst, oder? Ich spreche da übrigens aus Erfahrung.
  • Schritt 3:
    An den Schnittstellen alle Reaktionsgrößen einzeichnen, die dort übertragen werden können.
    Hierbei berücksichtigst du das Gegenwirkungsprinzip, wofür man auch kurz "Actio = Reactio" sagt. Das schauen wir uns im nächsten Abschnitt noch genau an.
Bisher habe ich bewusst darauf verzichtet, ein Koordinatensystem einzuführen. Damit will ich noch einmal darauf hinweisen, dass die Funktion von Lagern rein physikalisch bedingt ist, also kein Koordinatensystem braucht.
Aber da du ja auch mit den Systemen rechnen willst, ist es jetzt natürlich auch an der Zeit, ein Koordinatensystem einzuführen. Dann können wir auch die einzelnen Reaktionsgrößen einfach mit Namen versehen. Das fehlt ja auch noch.

Ich habe im linken und im rechten System bewusst unterschiedliche Koordinatensysteme gewählt.
Wenn Freischneiden für dich noch ganz neu ist, konzentriere dich erstmal nur auf das linke System.


Schritt für Schritt zum Freikörperbild: zwei Beispiele: letzter Schritt: Koordinatensystem einführen und Reaktionsgrößen benennen

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Beim systematischen Vorgehen muss also noch Schritt 4 ergänzt werden:

  • Schritt 4:
    Koordinatensystem einführen und Reaktionsgrößen geeignet benennen.


Vielleicht hast du dich schon mal gefragt, ob es eine Rolle spielt, wie, also in welche Richtungen, du die Reaktionsgrößen beim Freischneiden einzeichnest?

Ich habe mal ein einfaches System genommen und zwei unterschiedliche Varianten durchgespielt: 

  • links habe ich am Körper alle Reaktionsgrößen in positive Achsrichtung angenommen;
  • rechts habe ich ein Mischmasch an Richtungen gewählt, weshalb ich diese Variante "freestyle" genannt habe. 
Schau selbst, wie sich die unterschiedliche Wahl der Richtungen bemerkbar macht.


Auswirkung der Wahl der Richtungen der Reaktionsgrößen beim Freischneiden

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Es gibt also kein 'richtig' oder 'falsch' beim Einzeichnen der Richtungen von Reaktionsgrößen im Freikörperbild (Natürlich musst du Actio = Reactio beachten !!!): eingezeichnete Richtungen und erhaltene Vorzeichen musst du immer zusammen betrachten. Wenn dir also jemand auf der Straße ein Ergebnis von "A=500N" für die Lagerkraft A schenkt, kannst du mit dieser Information nicht viel anfangen, es sei denn, du kennst auch das Freikörperbild dazu.

Natürlich ist es naheliegend, sich auch beim Freischneiden irgendein schematisches Vorgehen anzugewöhnen. Dann muss man weniger nachdenken: Ich zeichne die Reaktionsgrößen am betrachteten Körper immer in positive Koordinatenrichtung ein.
Das geht natürlich nur, so lange ein System nur aus einem Körper besteht, wie es in Variante 1 des Beispiels von eben der Fall ist.
Besteht ein System aus mehreren Körpern, die mit Verbindungselementen verbunden sind, geht das natürlich nicht mehr. Hier sind zwei Körper mit einem Gelenk verbunden: Am Körper I zeigen die Gelenkräfte in positive Koordinatenrichtungen. Am Gelenk müssen die Kräfte wegen "Actio = Reactio" in negative Koordinatenrichtungen zeigen.
Auch gibt es die Konvention, dass Stäbe immer auf Zug freigeschnitten werden. Beim Fachwerk bedeutet das z.B. das alle Stabkräfte "vom Knoten weg" zeigen. Das wirst du im Kapitel Fachwerk noch genau kennenlernen.



Wenn es beim Weiteren Arbeiten mit statischen Systemen darum geht, Berechnungen auszuführen, also z.B. die Reaktionsgrößen auszurechnen, ist das Schnittprinzip sehr hilfreich.

Das Schnittprinzip besagt, dass wenn sich ein mechanisches System im Gleichgewicht befindet, dass dies dann auch für jedes herausgeschnittene Teilsystem gilt, so lange an den Schnittstellen geeignete Kräfte und Momente berücksichtigt werden.

Ich habe dir in der folgenden Abbildung einmal die drei Teilsysteme des rechten Beispiels markiert, die durch das Freischneiden entstanden sind.


Veranschaulichung des Schnittprinzips: Gesamtsystem und Teilsysteme im Gleichgewicht

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Für jedes dieser Teilsysteme kannst du einzeln die Gleichgewichtsbedingungen aufstellen und auswerten. Die Gleichgewichtbedingungen sind das Kräftegleichgewicht und das Momentengleichgewicht. Und wie du diese Gleichungen aufstellen kannst, lernst du im entsprechenden Kapitel.

Zusammenfassung - Das Wichtigste in Kürze

Ein Freikörperbild wird erstellt, um Reaktionskräfte und innere Kräfte in einem mechanischen System sichtbar zu machen und dann auch berechnen zu können.

Beim Freischneiden werden vier Schritte ausgeführt:

  1. Positionen im Systembild einzeichnen, bei denen du Schnitte setzt.
  2. Die durch den/die Schnitt/e getrennten Systemteile noch einmal mit viel Abstand aufzeichnen.
  3. An den Schnittstellen wirkende Kräfte und Momente (Reaktionsgrößen) unter Berücksichtigung von "Actio = Reactio" einzeichnen.
  4. Ein Koordinatensystem wählen (wenn in der Aufgabe keins vorgegeben ist) und die Reaktionsgrößen geeignet benennen.

Schnittprinzip

Befindet sich ein mechanisches System im Gleichgewicht, so gilt das auch für jedes daraus freigeschnittene Teilsystem, wenn an den Schnittstellen geeignete Kräfte und Momente berücksichtigt werden.

Das bedeutet wiederum, dass du für jedes Teilsystem einzeln die Gleichgewichtsbedingungen aufstellen und auswerten kannst.


3. Actio = Reactio

Actio = Reactio

Für das, was Isaac Newton in seinem dritten Axiom formuliert hat, gibt es verschiedene Bezeichnungen. Manche sprechen von Gegenwirkungsprinzip, manche von Wechelswirkungsprinzip und manche von Actio = Reactio. Die letzte Formulierung verwendet lateinische Begriffe, also Begriffe aus der Sprache, in der Newton Ende des 17. Jahrhunderts seine Erkenntnisse aufgeschrieben hat.

Was besagt denn nun dieses Prinzip?

Kräfte treten immer paarweise auf: Wenn ein Körper 1 auf einen anderen Körper 2 eine Kraft (actio) ausübt , so wirkt eine gleich große, aber entgegen gerichtete Kraft (reactio) von Körper 2 auf Körper 1. Beide Kräfte liegen auf derselben Wirkungslinie.

Dasselbe gilt übrigens auch für Momente: Wenn ein Körper 1 auf einen anderen Körper 2 ein Moment (actio) ausübt, so wirkt ein gleich großes, aber entgegen gerichtetes Moment (reactio) von Körper 2 auf Körper 1.
Beide Momente liegen auf derselben Wirkungslinie.

Schauen wir uns "Actio = Reactio" gleich mal an zwei Beispielen beim Freischneiden von Lagern an.


Actio = Reactio für zwei Systeme mit unterschiedlichen Lagern

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Im linken System tritt im Loslager im Punkt A eine Reaktionskraft auf, deren Richtung bereits bekannt aber deren Betrag unbekannt ist. Im Punkt B, dem Festlager, kann eine -nach Betrag UND Richtung- beliebige Reaktionskraft übertragen werden. Sowohl für die Lagerkraft in A als auch in B gilt, dass sie zwei Mal auftreten: jeweils einmal am Balken und einmal am Lager; sie haben dieselbe Wirkungslinie und die entgegengesetzte Richtung.
Auch für die Komponenten der Lagerkraft in B, die sich bei der Zerlegung bezüglich der Achsen des gewählten Koordinatensystem ergeben, gilt natürlich Actio = Reactio.

Im rechten System kann in der festen Einspannung ein beliebige Reaktionskraft und ein Moment übertragen werden. Die Argumentation für die Reaktionskraft ist identisch der Argumentation beim Festlager. Aber auch für das Reaktionsmoment gilt: Das Reaktionsmoment tritt doppelt auf, einmal am Balken, einmal an der Wand. Die Richtung der beiden Momente ist entgegengesetzt und die Wirkungslinie ist identisch.

Jetzt wirst du vielleicht denken: "Ok, also mit den Reaktionsgrößen, also Reaktionskräften und -momenten, passt das mit dem Actio = Reactio.  Was aber ist mit der Kraft F und der Gewichtskraft G im linken Beispiel von eben? Die sind doch nur einmal vorhanden ?!?"

Schauen wir doch nochmal genauer auf das Beispiel 1 von eben.


Actio = Reactio unter der Lupe - Ansicht 1

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Genau an der Stelle lohnt es sich, stufenweise ein Stück weiter rauszuzoomen.

Machen wir den ersten Zoomschritt. dafür reichen ein bis zwei Schritte rückwärts. Dann sieht das Bild so aus:


Actio = Reactio unter der Lupe - Ansicht 2

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Aha! Die Kraft \(\vec{F} \) kommt gar nicht aus dem Nichts, sondern daher, dass jemand mit dem Finger auf den Körper drückt. Das bedeutet also, dass wir unser Freikörperbild erweitern können.


Actio = Reactio unter der Lupe - Ansicht 3

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Und dann ist die Kraft \(\vec{F} \) auf einmal auch doppelt vorhanden: in dem Maße, in dem der Finger auf den Körper drückt, drückt der Körper auf den Finger zurück: Actio = Reactio. Die beiden Kräfte liegen auf einer Wirkungslinie, sind entgegengesetzt von der Richtung her und haben den gleichen Betrag. Das passt jetzt also auch schon mal mit dem Gegenwirkungsprinzip.

Und was ist jetzt noch mit der Gewichtskraft \(\vec{G} \)? Dazu müssen wir noch einen weiteren Zoomschritt machen ... und zwar dieses Mal einen großen ... einen ganz großen ... raus in den Weltraum.
Wenn wir jetzt also von außen auf die Erde schauen, dann können wir mit einer Speziallupe sehen, dass da gerade jemand auf der Erdoberfläche unser Experiment durchführt und mit einem Finger auf einen Balken drückt.


Actio = Reactio unter der Lupe - Ansicht 4

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Und jetzt wird auch klar, dass es auch für die Gewichtskraft \(\vec{G} \) eine Gegenkraft gibt, die das Paar komplett macht. Sie greift im Erdmittelpunkt an.
Die Gewichtskraft beruht ja darauf, dass es zwischen zwei beliebigen Objekten nach dem Gravitationsgesetz eine Anziehungskraft gibt. Zwischen Erde und Körpern auf der Erdoberfläche ist diese Anziehungskraft von merklicher Größe. Und da die Anziehungskraft als Einzelkraft im Schwerpunkt eines jeden Objektes berücksichtigt werden kann, greift sie auf der Seite der Erde (näherungsweise) im Erdmittelpunkt an.
Problem gelöst: Auch für die Gewichtskraft gilt Actio = Reactio und die Aussage des Gegenwirkungsprinzips passt auch hier.
Schon beeindruckend, was Isaac Newton, und er war ja nicht der einzige Wissenschaftler, der sich damals mit solchen Fragestellungen beschäftigt hat, letztendlich zusammengetragen und aufgeschrieben hat, oder?

Zusammenfassung - Das Wichtigste in Kürze

Das Gegenwirkungsprinzip besagt folgendes:

  1. Kräfte und Momente treten immer paarweise auf.
  2. Wenn ein Körper 1 auf einen anderen Körper 2 eine Kraft/ein Moment (actio) ausübt , so wirkt eine gleich große, aber entgegen gerichtete Kraft/ein gleich große aber entgegen gerichtetes Moment (reactio) von Körper 2 auf Körper 1.
  3. Beide Kräfte/Momente liegen auf derselben Wirkungslinie.
In Kurzform wird dieses Prinzip auch als "Actio = Reactio" bezeichnet.