Kraft
3. Verschiedene Kraftarten ganz nah
3.3. Seilkraft ohne Reibung
Seilkraft ohne Reibung
Könnte man statt eines Tauziehens auch ein Taudrücken veranstalten? "Komische Frage", denkst du jetzt vielleicht. Mit einem langen Tau zu drücken geht irgendwie nicht. Mit einem ganz kurzen Stück aber schon. Mh.
Und 'n Ooge taudrücken sollten wir vielleicht alle mal viel häufiger.
Aber mal ganz ernsthaft: Die Frage mit dem Tauziehen/-drücken führt uns direkt zur Frage, was ein Seil eigentlich ist. Und du ahnst es schon: Wenn ich diese Frage so stelle, dann meine ich natürlich "Was ist ein Seil als mechanisches Modell?"
Überleg als erstes Mal, wo Seile in der Realität eingesetzt werden. Ein paar Anregungen findest du in den folgenden Bildern.
Was kennzeichnet Seile in all diesen Anwendungen? Es sind Elemente, die
- aus zusammengedrehten oder geflochtenen Fasern oder Drähten bestehen,
- im Verhältnis zum Durchmesser sehr schlank oder lang sind, die
- Zugkräfte übertragen und
- durchhängen, wenn man ein längeres Stück davon hochhebt und sie sind
- je nach Material und Herstellung mehr (z.B. Kletterseil) oder weniger (z.B. Drahtseil) elastisch.
- masselos,
- straff,
- nicht dehnbar,
- ohne Biegesteifigkeit und
- kann ausschließlich Zugkräfte übertragen und
- sein Durchmesser ist gegenüber seiner Länge und allen anderen Abmessungen des Systems vernachlässigbar.
Für einen Kran ist ein ebenes Modell erstellt worden, das du in der nächsten Abbildung siehst. Der Ausleger des Krans ist als Fachwerk modelliert. Die eigentliche Hebevorrichtung für Lasten ist als Rolle mit Radius \( r \) im Modell berücksichtigt worden. Ein Seil führt von der Motoreinheit im Punkt \( D \) wie dargestellt über die Rolle zur Last mit der Gewichtskraft \( G \). Wird die Motoreinheit angesteuert, bewegt sich die Last also je nach Drehrichtung des Motors nach obern oder nach unten.

Ebenes Modell eines Krans.
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Johanna Peters - Mechanik hautnah | TU Hamburg
CC BY 4.0-Lizenz
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Aus Sicht des Konstrukteurs des Krans ist es natürlich wünschenswert, dass das Anheben und Senken von Lasten bei einem Kran möglichst reibungsfrei, also möglichst ohne zusätzlichen Energieaufwand, funktioniert. Dementsprechend ist es nur logisch davon auszugehen, dass bei der Auslegung der Lagerung der Rolle konstruktiv darauf geachtet wurde, dass möglichst wenig Reibung vorliegt. Für das Modell ist es daher angemessen anzunehmen, dass an der Lagerstelle gar keine Reibung vorliegt: Die Rolle wird als reibungsfrei gelagert in Punkt \( C \) modelliert. Da die Masse der Rolle im Vergleich zu den zu bewegenden Lasten klein ist, wird die Masse der Rolle vernachlässigt.
Stellt sich die Frage, wie es mit der Kraft im Seil aussieht. Machen wir doch erstmal das, was wir schon gut können: Freischneiden und ein Freikörperbild erstellen. Dabei benenne ich alle Größen, deren Wert noch nicht bekannst sind, mit sinnvollen Namen.

Ebenes Modell eines Krans: Freischneiden der Rolle.
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Wenn wir die Rolle freischneiden wollen, müssen wir das Seil an beiden Seiten der Rolle schneiden. Zusätzlich müssen wir noch die Rolle vom eigentlichen Fachwerk, das den Krangrundaufbau modelliert, trennen, also in Punkt \( C \) schneiden .
Mit eingezeichneten Größen an den Schnittstellen, sieht das dann so aus:

Ebenes Modell eines Krans: Teilfreikörperbild.
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An den Stellen, an denen das Seil geschnitten wurde, habe ich je eine Kraft in Seilrichtung eingezeichnet und natürlich das Prinzip "Actio = Reactio" berücksichtigt. Da Seile nur Zugkräfte übertragen können, ist es einfach nur logisch, die Kräfte "vom Seil weg", also in Zugrichtung einzuzeichnen. Würde ich die Seilkräfte ausrechnen, wüsste ich, dass ich bei dieser Art des Freikörperbilds in jedem Fall etwas Positives herauskommen muss. Passiert das nicht, weiß ich, dass ich mich verrechnet habe und kann auf Fehlersuche gehen. Der Buchstabe \( S \) für Seilkräfte bietet sich einfach an. Und da ich nicht weiß, wie groß die Seilkräfte sind, habe ich sie einfach mit einem fortlaufenden Index nummeriert. Das Lager im Punkt \( C \) ist reibungsfrei und kann eine Kraft in eine beliebige Richtung übertragen, die ich hier wie üblich gleich in Komponenten in die beiden gegebenen Koordinatenrichtungen zerlegt habe.

Ebenes Modell eines Krans: Freikörperbilder von Rolle und Last
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Das Gesamtsystem ist im Gleichgewicht und beim Herausschneiden der Rolle und der Last haben wir die auftretenden Reaktionsgrößen berücksichtigt. Deshalb müssen auch Rolle und Last jeweils im Gleichgewicht sein undwirfür können für beide Körper Gleichgewichtsbedingungen aufstellen.
Aus dem Momentengleichgewicht für die Rolle im Punkt /( C /) um die \( z- \)Achse ergibt sich, dass die beiden Seilkräfte \( S_1 \) und \(S_2 \) gleich groß sind.
Aus dem Kräftegleichgewicht in \( y- \)Richtung für die Last folgt \(S_1 = G\).
Durch die reibungsfrei gelagerte Rolle wird das Seil also lediglich umgelenkt weshalb die Seilkraft "rechts und links" von der Rolle identisch ist und den Wert der Gewichtskraft der Last hat.
Bisher haben wir gesagt, dass die Rolle reibungsfrei gelagert ist. Wenn wir uns das Freikörperbild der Rolle und das Freikörperbild, bei dem zusätzlich noch das Seil von der Rolle getrennt wird, anschauen, wird unmittelbar über den Kontakt zwischen Rolle und Seil noch etwas klar.

Rolle: Seil noch nicht von Rolle getrennt (links); Seil auch noch von Rolle getrennt (rechts).
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Zwischen dem Seil und der Rolle wirkt entlang der Kontaktlinie in jedem Fall eine Normalkraft. Sie wurde hier beim Freischneiden als kostant über die Berührlinie verteilt modelliert.
Aber wie sieht es nun mit einer Reibkraftkomponente im Kontakt zwischen Seil und Rolle aus?
Der Kontakt zwischen Seil und Rolle muss reibungsfrei sein. Würde entlang der Kontaktlinie zwischen Seil und Rolle eine Reibkraft wirken, würde die ja ins Momentengleichgewicht eingehen. Das würde ummittelbar zur Folge haben, dass die Seilkräfte \( S_1 \) und \( S_2 \) ungleich wären. Wir haben ja aber gerade eben anhand des Freikörperbildes, in dem das Seil noch nicht von der Rolle getrennt ist, gezeigt, dass die beiden Seilkräfte identisch sind. Wenn eine Rolle reibungsfrei gelagert ist, bedeutet das in der betrachteten Konstellation automatisch, dass auch zwischen Seil und Rolle keine Reibung wirkt. Das unterstreicht nochmal die Aussage, dass das Seil einfach nur umgelenkt wird und die Kraft im Seil sich dadurch nicht ändert.
Wenn die Rolle jetzt einfach als Umlenkung fungieren würde, es also gar kein Lager in der Mitte gäbe und die Rolle fest mit der Umgebung verbunden wäre, was ändert sich dann? Im folgenden Bild ist die "feste Ecke" rechts dargestellt.

Reibungsfrei gelagerte Rolle (links); Umlenkung mit reibungsfreiem Kontakt zwischen Seil und Kontaktpartner (rechts): die mechanische Funktion ist dieselbe.
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Rein von der mechanischen Funktion her ändert sich gar nichts, wenn das Seil um eine Geometrie, die die Form eines Kreises hat, umgelenkt wird. Das gilt genau so lange, wie der Kontakt zwischen Seil und Rollengeometrie reibungsfrei ist.
In diesem Video findest du noch einmal viele Punkte aus diesem Abschnitt:
Ganz anders sieht die Welt aus, wenn im Modell Reibung berücksichtigt werden muss. Was sich ändert, wenn der Kontakt zwischen Seil und Kontaktpartner als reibungsbehaftet, also mit Reibung, modelliert werden muss, um die Realität möglichst gut abzubilden, das steht in einem anderen Abschnitt.