Los geht's - Einführung: Kultur und Innovation
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Einführung: Kultur und Innovation
Zusammenfassung
In diesem ersten Animationsvideo der neuen Serie des Instituts für Kultur- und Medienmanagmeent (KMM) geht der Dozierende Alexander Bretz auf das Wechselverhältnis von Kultur und Innovation ein. Hierzu stellt er einige theoretische Hintergründe (u.a. von Joseph Schumpeter, Karl Marx und Gabriel Tarde) und historische Beispiele (die "Tupper Ladies") vor und geht auch auf tagesaktuelle Beispiele ein (Stichwort "TikTok" und "Apple").
Kultur und Innovation - Animation
VIDEO - Kulturmanagement innovativ: Episode 1 "Kultur und Innovation"
Transkript
RA Prof. Dr. Alexander Bretz (2021): Kultur und Innovation — Transkript des Animationsvideos.
Was gibt es innovativeres als Kultur? Auf den ersten Blick mag die Antwort darauf naheliegen. Aber ganz so ist es nicht. Kultur und Innovation sind nicht dasselbe. Und sie führen manchmal eine eher gespannte Beziehung. Das liegt am Verständnis von Innovation. Die wird meistens mit neuen Produkten, manchmal vielleicht noch mit neuen Prozessen gleichgesetzt. So wird der Begriff alleine technisch-wirtschaftlich verstanden. Und die Kultur bleibt außen vor. Das wird deutlich an einer Geschichte.
Nach dem zweiten Weltkrieg erfand der Amerikaner Earl Silas Tupper Plastikdosen, deren Konstruktion es erlaubte, durch Druck auf den weicheren Deckel etwas Luft herauszupressen und dadurch im Inneren einen leichten Unterdruck zu erzeugen.
1951 machte Tupper dann die Amerikanerin Brownie Wise zur Chefin seines Verkaufs.
Wise hatte ihn mit einem neuen Vertriebskonzept beeindruckt: Frauen aus der Nachbarschaft trafen sich bei sog. »Patio Parties« und bekamen beim Kaffetrinken die Vorteile der neuen Dosen vorgestellt. Eine sog. »Tupper Lady« warf den Teilnehmerinnen mit Wasser gefüllte Dosen zu oder stellte sich mit einem Fuß auf die härtere Außenschale. Und die Anwesenden konnten nicht nur bestellen, sondern selbst auch einfach Tupper Ladies werden und mit den Provisionen auf die bestellten Dosen eigenes gutes Geld verdienen. Und das in einer Zeit, da die US-amerikanische Gesellschaft nach dem Weltkrieg die Frauen wieder zurück an Herd und Haus beorderte, die sie vorher mit der Werbefigur »Rosie the Riveter« (»Rosie, die Nieterin«) und dem Slogan »We Can Do It« in die Kriegsproduktion gerufen hatte.
Gleichzeitig inszenierte Brownie Wise aber auch ein Gemeinschaftsgefühl der Frauen.
Unter dem Motto »Faith, Respect, and Sorority« konnten sich die Ladies als Teil einer großen Tupper Family fühlen: »Wenn wir die Menschen aufbauen, werden sie das Unternehmen aufbauen«, sagte Brownie Wise. In nur zwei bis drei Jahren explodierten die Umsätze und Gewinne des Unternehmens. Tausende von Tupper Ladies wurden jedes Jahr auf das 400 Hektar große Firmengelände in Florida eingeladen, das zu einem Märchenpark umgestaltet worden war. Bei diesen sog. »Jubilees« bekamen sie Produktneuheiten vorgestellt, und die erfolgreichsten Verkäuferinnen erhielten üppige Zusatzprämien wie Pelzmäntel oder Autos.
Was aber war daran jetzt die Innovation? Nur die Plastikdosen? Oder auch das Vertriebssystem? Die Tupper-Parties? Oder das »Wir-Gefühl« der Ladies? Die Antwort darauf hängt davon ab, ob der Begriff der Innovation nur für ein neues Produkt gelten soll — oder auch für die Ideen, also über den wirtschaftlichen Bereich hinaus.
Was die meisten nicht wissen: der erste Theoretiker, der sich mit Innovation beschäftigte, war Karl Marx. Er erklärte den Wettbewerb der Kapitalisten untereinander damit, dass diese stets eine Nasenlänge vor ihren Konkurrenten liegen wollten:
»An die Stelle des gewohnheitsfaulsten und irrationellsten Betriebs tritt bewußte, techno-logische Anwendung der Wissenschaft. […] Sie zerstört damit zugleich die physische Gesundheit der Stadtarbeiter und das geistige Leben der Landarbeiter. Aber sie zwingt zugleich durch die Zerstörung der bloß naturwüchsig entstandnen Umstände jenes Stoffwechsels … ihn systematisch als regelndes Gesetz der gesellschaftlichen Produktion und in einer der vollen menschlichen Entwicklung adäquaten Form herzustellen.«[i]
Darauf baute der Österreicher Joseph Schumpeter auf, als er das Prinzip der kreativen Zerstörung zu erkennen glaubte. Neue Produkte machen alte überflüssig, weil sie bessere Lösungen für den Bedarf der Leute bieten:
»Die Erschließung neuer Märkte im In- und Ausland und die organisatorische Entwicklung von Handwerk und Fabrik zu […] Unternehmen […] veranschaulichen den gleichen Prozess der industriellen Mutation […], der die Wirtschaftsstruktur von innen unaufhörlich revolutioniert, die alte zerstört, eine neue erschafft. Dieser Prozess der kreativen Zerstörung ist die wesentliche Tatsache des Kapitalismus. Er ist das, woraus der Kapitalismus besteht und in dem jedes kapitalistische Anliegen leben muss.«[ii]
Internetbasierte Unternehmen führen die kreative Zerstörung heutzutage gerne an, um ihre Angebote ohne Rücksicht auf Verluste als alternativlose »Disruptionen« und einzig mögliche Zukunftslösungen anzupreisen — Auch wenn es schon Lösungen gibt, die vielleicht viel besser sind. Oder auch wenn jeder von ihnen alleine gar nicht so kreativ ist, wie er tut.
Dann muss es irgendjemanden oder irgendetwas geben, um die vielen Beteiligten zu organisieren und die großen Projekte zu finanzieren. Das ist dann meistens — der Staat, wie die Innovationsökonomin Mariana Mazzucato am Beispiel des iPhone gezeigt hat.
Zum Beispiel gibt es die meisten Elemente und Komponenten des iPhone nur, weil deren Entwicklung vorher vom Staat initiiert und bezahlt wurde. So wurden das Internet, Microprozessoren und Mikrofestplatten von einer Behörde des Verteidigungsministeriums der Vereinigten Staaten organisiert und finanziert, der Defense Advanced Research Projects Agency, abgekürzt DARPA. Und sogar die Sprachschnittstelle SIRI ist ein Baby der DARPA.
»Um Wachstum durch Innovation zu fördern, ist es von grundlegender Bedeutung, die Rollen zu verstehen, die der öffentliche wie auch der private Sektor beide dabei spielen. Entscheidend ist nicht nur, Innovation als ‘Ökosystem‘ zu verstehen, sondern auch, was jeder dieser beiden Akteure dazu beiträgt. Die Annahme, dass der öffentliche Sektor allenfalls Anreize für Innovationen des privaten Sektors schaffen könne (durch Subventionen, Steuersenkungen, CO2-Preise, technische Standards usw.) […], berücksichtigt nicht die vielen Beispiele, in denen der Staat die führende unternehmerische Kraft ist — und nicht der private Sektor. […] Diese Rolle zu ignorieren, hat sich auf die Art der öffentlich-privaten Partnerschaften ausgewirkt, die geschaffen werden (möglicherweise eher parasitär als symbiotisch), und Geld für unwirksame Anreize (einschließlich verschiedener Arten von Steuersenkungen) verschwendet, das besser für andere Zwecke ausgegeben worden wäre.«[iii]
Es liegt also auf der Hand, dass Innovation leicht schiefgehen kann, wenn sie nur technisch oder produktbezogen verstanden wird. Zum Beispiel ist nicht jedes neue Produkt automatisch erfolgreich. Es müssen andere Faktoren dazukommen. Zum Beispiel eine bestimmte Stimmung — wie die der Frauen nach dem 2. Weltkrieg, die sich an Arbeit und eigenes Einkommen gewöhnt hatten. Oder es muss eine kreativ-kulturelle Dimension dazukommen, wie beim iPhone auch das Design. Innovation ist also viel komplexer in ihrer Bedeutung und ihren Wirkungen als sie üblicherweise verstanden wird.
All das fasst am besten ein ganz anderer Denker zusammen, der sich schon um 1900 mit dem Thema der Innovation beschäftigt hat: der französische Jurist und Soziologe Gabriel Tarde verstand Innovation umfassend als alles, was sozial relevant ist, als:
»jede beliebige Neuerung oder Verbesserung in jeglicher Art von sozialen Phänomenen wie Sprache, Religion, Politik, Recht, Industrie oder Kunst. […] Die wirklichen Ursachen der Veränderungen [...] bestehen aus einer Kette von allerdings sehr zahlreichen Ideen, die jedoch verschieden und diskontinuierlich sind, obwohl sie durch noch viel zahlreichere Nachahmungshandlungen, deren Vorbild sie darstellen, miteinander verbunden werden.«[iv]
Wenn Innovation verändern will, muss sie sich auch ihrer gesellschaftlichen und kulturellen Verantwortung stellen. Sonst ist sie selbst nur ein jederzeit durch ein neues Produkt verdrängbarer Konsumgegenstand.
[i] Marx, Karl (1872/1986): Das Kapital (Marx-Engels-Gesamtausgabe – MEGA) 2, II.6. Berlin, 476.
[ii] Schumpeter, Joseph (1942/2003): Capitalism, Socialism and Democracy. London, New York, 83.
[iii] Mazzucato, Mariana (2014): The Entrepreneurial State. London, New York, Dublin, 207.
[iv] Tarde, Gabriel (1890/2003): Les lois de l'imitation, zit. n. d. dt. Ausg.: Die Gesetze der Nachahmung. Frankfurt a.M., 26.
Podcast
Über den Autor
Alexander Bretz, Jahrgang 1964, machte vor seinem Studium der Rechtswissenschaften in Mainz eine Lehre zum Verlagskaufmann in Frankfurt a. M. Nach dem zweiten juristischen Staatsexamen in Berlin arbeitete er als selbstständiger Rechtsanwalt und Unternehmensberater, nebenher von Anfang an auch als Dozent für Wirtschafts- und Designrecht sowie Rechtsökonomik (Law and Economics). Eine besondere Expertise entwickelte er in der Beratung von Gründungsunternehmen in der Mode-, Design- und Musikbranche. 2004 wurde er von Enquete-Kommission Kultur in Deutschland des Deutschen Bundestages zu seiner Einordnung und Einschätzung der Public-Private-Partnership im Kulturbereich befragt und drückte dabei inzwischen weithin bestätigte grundsätzliche Bedenken gegen diese Form der Kulturfinanzierung aus. 2018 bestellte ihn die Burg Giebichenstein Kunsthochschule Halle zum Honorarprofessor für Designrecht und Existenzgründung. 2020 wurde er mit einer Arbeit über »Kredite für Kreative«, die Fremdfinanzierung in den Kreativbranchen am Beispiel der Berliner Modeszene, von der Hochschule für Musik und Theater Hamburg zum Dr. phil. promoviert. Neben seiner Honorarprofessur in Halle ist er seit vielen Jahren als Dozent an Hochschulen in Deutschland und im Ausland tätig. Er ist Mitautor von Büchern zu Existenzgründung, Finanzierung und Rechtsfragen im Design und lebt in Berlin und in der Normandie (Frankreich).
Extras
Wir haben dieses Video auch auf Englisch für euch gemacht - hier ist es:
VIDEO - Culture and Innovation
EN Transcript
Prof. Alexander Bretz, PhD, Attorney-at-Law (2021): Culture and Innovation – Transcript of the animated video.
Is there anything more innovative than culture? At first glance, the answer to this may seem obvious. But it's not quite like that. Culture and innovation are not the same thing. And sometimes they have a rather tense relationship. This is due to the understanding of innovation. Innovation is mostly equated with new products, sometimes with new processes. So the term is understood technically and economically alone. And the culture is left out. That becomes clear in a story.
After the Second World War, American Earl Silas Tupper invented plastic cans, the construction of which made it possible to squeeze some air out by pressing on the softer lid, thereby creating a slight negative pressure inside. In 1951 Tupper then made American Brownie Wise the boss of his sales. Wise had impressed him with a new sales concept: women from the neighborhood met at so-called ‘patio parties’ and were introduced to the advantages of the new cans while drinking coffee. A so-called ‘Tupper Lady’ threw cans filled with water to the participants or stood with one foot on their harder outer shell. And the attendees could not only order, but also become Tupper Ladies themselves — and earn their own good money with the commissions on the ordered cans at a time when, after World War II, American society ordered women back to the kitchen — the very same society that had previously called them into war production with the advertising character ‘Rosie the Riveter’ and the slogan ‘We Can Do It!’ At the same time, Brownie Wise also fostered a sense of community among women. Under the motto ‘Faith, Respect, and Sorority’, the ladies could feel being a part of a large Tupper Family: "If we build people, they will build the company," said Brownie Wise. The company's sales and profits exploded in just two to three years. Thousands of Tupper Ladies were invited every year to the 400-hectare company premises in Florida, which had been transformed into a fairytale park. At these so-called ‘Jubilees’ they were introduced to new products, and the most successful saleswomen received lavish additional bonuses such as fur coats or cars.
But what was the innovation there? Just the plastic cans? Or the distribution system? The Tupper parties? Or the ‘we’ feeling of the ladies? The answer depends on whether the concept of innovation should only apply to a new product - or also to new ideas, that is, whether it should extend far beyond the mere economic area.
What most people don't know is that Karl Marx was the first theorist to deal with innovation. He explained the competition among the capitalists with the fact that they always wanted to be a step ahead of their competitors:
”The most habitual and irrational operation takes the place of conscious, technological application of science. [...] It destroys the physical health of city workers and the intellectual life of agricultural workers at the same time. But at the same time, by destroying the purely natural circumstances of that metabolism, it systematically produces it as a regulating law of social production and in a form that is adequate for full human development.“[i]
Austrian Joseph Schumpeter built on this when he thought he recognized the principle of ‘creative destruction’: New products make old ones superfluous because they offer better solutions for people's needs:
“The opening up of new markets, foreign or domestic, and the organizational development from the craft shops and factories to big industrial concerns illustrate the same process of industrial mutation—if I may use that biological term—that incessantly revolutionizes the economic structure from within, incessantly destroying the old one, incessantly creating a new one. This process of Creative Destruction is the essential fact about capitalism. It is what capitalism consists in and what every capitalist concern has got to live in.”[ii]
Internet-based companies like to use the creative destruction nowadays to praise their offers as alternative »disruptions« and the only possible future solutions regardless of losses, even if there are solutions that may be much better. Or even if each of them is not as creative as they appear to be.
Then there has to be someone or something to organize the many involved players and finance the big projects. That is mostly - the state, as innovation economist Mariana Mazzucato has shown using the iPhone as an example. Most elements and components of the iPhone exist only because their development was previously initiated and paid for by the state. The Internet, microprocessors and micro hard drives were initiated and financed by an agency of the United States Department of Defense, the Defense Advanced Research Projects Agency, DARPA for short. And even the SIRI voice interface is a baby of DARPA.
“In seeking to promote innovation-led growth, it is fundamental to understand the important roles that both the public and private sector can play. This requires not only understanding the importance of the innovation ‘ecosystem’ but especially what it is that each actor brings to that system. The assumption that the public sector can at best incentivize private sector–led innovation (through subsidies, tax reductions, carbon pricing, technical standards and so on) […] fails to account for the many examples in which the leading entrepreneurial force came from the State rather than from the private sector. Ignoring this role has impacted the types of public–private partnerships that are created (potentially parasitic rather than symbiotic), and has wasted money on ineffective incentives (including different types of tax cuts) that could have been spent more effectively.”[iii]
So it is obvious that innovation can easily go wrong if it is only understood from a technical or product perspective. For example, not every new product is automatically successful. Other factors have to be added. For example, a certain mood - like that of women after World War II who had gotten used to working and having their own income. Or there has to be a creative-cultural dimension, just like with the design of the iPhone. So innovation is much more complex in its meaning and effects than is usually understood.
All of this is best summed up by a completely different thinker who dealt with the topic of innovation as early as 1890: French lawyer and sociologist Gabriel Tarde comprehended it as everything that is socially relevant being:
“Any innovation or improvement in any kind of social phenomena such as language, religion, politics, law, industry or art. [...] The real causes of the changes [...] consist of a chain of very numerous ideas, which are however different and discontinuous, although they are linked by even more numerous counterfeiting actions, of which they are the model.”[iv]
If innovation wants to change, it must also face up to its social and cultural responsibility. Otherwise, it is itself only a consumer item that can be replaced by a new product at any time.
[i] Marx, Karl (1872/1986): Das Kapital (Marx-Engels-Gesamtausgabe – MEGA) 2, II.6. Berlin, 476.
[ii] Schumpeter, Joseph (1942/2003): Capitalism, Socialism and Democracy. London, New York, 83.
[iii] Mazzucato, Mariana (2014): The Entrepreneurial State. London, New York, Dublin, 207.
[iv] Tarde, Gabriel (1890/2003): Les lois de l'imitation, zit. n. d. dt. Ausg.: Die Gesetze der Nachahmung. Frankfurt a.M., 26.
Last modified: Thursday, 21 November 2024, 8:04 PM