Episode 1: Kultur und Innovation - Animation
Abschlussbedingungen
Kultur und Innovation - Animation
VIDEO - Kulturmanagement innovativ: Episode 1 "Kultur und Innovation"
Transkript
RA Prof. Dr. Alexander Bretz (2021): Kultur und Innovation — Transkript des Animationsvideos.
Was gibt es innovativeres als Kultur? Auf den ersten Blick mag die Antwort darauf naheliegen. Aber ganz so ist es nicht. Kultur und Innovation sind nicht dasselbe. Und sie führen manchmal eine eher gespannte Beziehung. Das liegt am Verständnis von Innovation. Die wird meistens mit neuen Produkten, manchmal vielleicht noch mit neuen Prozessen gleichgesetzt. So wird der Begriff alleine technisch-wirtschaftlich verstanden. Und die Kultur bleibt außen vor. Das wird deutlich an einer Geschichte.
Nach dem zweiten Weltkrieg erfand der Amerikaner Earl Silas Tupper Plastikdosen, deren Konstruktion es erlaubte, durch Druck auf den weicheren Deckel etwas Luft herauszupressen und dadurch im Inneren einen leichten Unterdruck zu erzeugen.
1951 machte Tupper dann die Amerikanerin Brownie Wise zur Chefin seines Verkaufs.
Wise hatte ihn mit einem neuen Vertriebskonzept beeindruckt: Frauen aus der Nachbarschaft trafen sich bei sog. »Patio Parties« und bekamen beim Kaffetrinken die Vorteile der neuen Dosen vorgestellt. Eine sog. »Tupper Lady« warf den Teilnehmerinnen mit Wasser gefüllte Dosen zu oder stellte sich mit einem Fuß auf die härtere Außenschale. Und die Anwesenden konnten nicht nur bestellen, sondern selbst auch einfach Tupper Ladies werden und mit den Provisionen auf die bestellten Dosen eigenes gutes Geld verdienen. Und das in einer Zeit, da die US-amerikanische Gesellschaft nach dem Weltkrieg die Frauen wieder zurück an Herd und Haus beorderte, die sie vorher mit der Werbefigur »Rosie the Riveter« (»Rosie, die Nieterin«) und dem Slogan »We Can Do It« in die Kriegsproduktion gerufen hatte.
Gleichzeitig inszenierte Brownie Wise aber auch ein Gemeinschaftsgefühl der Frauen.
Unter dem Motto »Faith, Respect, and Sorority« konnten sich die Ladies als Teil einer großen Tupper Family fühlen: »Wenn wir die Menschen aufbauen, werden sie das Unternehmen aufbauen«, sagte Brownie Wise. In nur zwei bis drei Jahren explodierten die Umsätze und Gewinne des Unternehmens. Tausende von Tupper Ladies wurden jedes Jahr auf das 400 Hektar große Firmengelände in Florida eingeladen, das zu einem Märchenpark umgestaltet worden war. Bei diesen sog. »Jubilees« bekamen sie Produktneuheiten vorgestellt, und die erfolgreichsten Verkäuferinnen erhielten üppige Zusatzprämien wie Pelzmäntel oder Autos.
Was aber war daran jetzt die Innovation? Nur die Plastikdosen? Oder auch das Vertriebssystem? Die Tupper-Parties? Oder das »Wir-Gefühl« der Ladies? Die Antwort darauf hängt davon ab, ob der Begriff der Innovation nur für ein neues Produkt gelten soll — oder auch für die Ideen, also über den wirtschaftlichen Bereich hinaus.
Was die meisten nicht wissen: der erste Theoretiker, der sich mit Innovation beschäftigte, war Karl Marx. Er erklärte den Wettbewerb der Kapitalisten untereinander damit, dass diese stets eine Nasenlänge vor ihren Konkurrenten liegen wollten:
»An die Stelle des gewohnheitsfaulsten und irrationellsten Betriebs tritt bewußte, techno-logische Anwendung der Wissenschaft. […] Sie zerstört damit zugleich die physische Gesundheit der Stadtarbeiter und das geistige Leben der Landarbeiter. Aber sie zwingt zugleich durch die Zerstörung der bloß naturwüchsig entstandnen Umstände jenes Stoffwechsels … ihn systematisch als regelndes Gesetz der gesellschaftlichen Produktion und in einer der vollen menschlichen Entwicklung adäquaten Form herzustellen.«[i]
Darauf baute der Österreicher Joseph Schumpeter auf, als er das Prinzip der kreativen Zerstörung zu erkennen glaubte. Neue Produkte machen alte überflüssig, weil sie bessere Lösungen für den Bedarf der Leute bieten:
»Die Erschließung neuer Märkte im In- und Ausland und die organisatorische Entwicklung von Handwerk und Fabrik zu […] Unternehmen […] veranschaulichen den gleichen Prozess der industriellen Mutation […], der die Wirtschaftsstruktur von innen unaufhörlich revolutioniert, die alte zerstört, eine neue erschafft. Dieser Prozess der kreativen Zerstörung ist die wesentliche Tatsache des Kapitalismus. Er ist das, woraus der Kapitalismus besteht und in dem jedes kapitalistische Anliegen leben muss.«[ii]
Internetbasierte Unternehmen führen die kreative Zerstörung heutzutage gerne an, um ihre Angebote ohne Rücksicht auf Verluste als alternativlose »Disruptionen« und einzig mögliche Zukunftslösungen anzupreisen — Auch wenn es schon Lösungen gibt, die vielleicht viel besser sind. Oder auch wenn jeder von ihnen alleine gar nicht so kreativ ist, wie er tut.
Dann muss es irgendjemanden oder irgendetwas geben, um die vielen Beteiligten zu organisieren und die großen Projekte zu finanzieren. Das ist dann meistens — der Staat, wie die Innovationsökonomin Mariana Mazzucato am Beispiel des iPhone gezeigt hat.
Zum Beispiel gibt es die meisten Elemente und Komponenten des iPhone nur, weil deren Entwicklung vorher vom Staat initiiert und bezahlt wurde. So wurden das Internet, Microprozessoren und Mikrofestplatten von einer Behörde des Verteidigungsministeriums der Vereinigten Staaten organisiert und finanziert, der Defense Advanced Research Projects Agency, abgekürzt DARPA. Und sogar die Sprachschnittstelle SIRI ist ein Baby der DARPA.
»Um Wachstum durch Innovation zu fördern, ist es von grundlegender Bedeutung, die Rollen zu verstehen, die der öffentliche wie auch der private Sektor beide dabei spielen. Entscheidend ist nicht nur, Innovation als ‘Ökosystem‘ zu verstehen, sondern auch, was jeder dieser beiden Akteure dazu beiträgt. Die Annahme, dass der öffentliche Sektor allenfalls Anreize für Innovationen des privaten Sektors schaffen könne (durch Subventionen, Steuersenkungen, CO2-Preise, technische Standards usw.) […], berücksichtigt nicht die vielen Beispiele, in denen der Staat die führende unternehmerische Kraft ist — und nicht der private Sektor. […] Diese Rolle zu ignorieren, hat sich auf die Art der öffentlich-privaten Partnerschaften ausgewirkt, die geschaffen werden (möglicherweise eher parasitär als symbiotisch), und Geld für unwirksame Anreize (einschließlich verschiedener Arten von Steuersenkungen) verschwendet, das besser für andere Zwecke ausgegeben worden wäre.«[iii]
Es liegt also auf der Hand, dass Innovation leicht schiefgehen kann, wenn sie nur technisch oder produktbezogen verstanden wird. Zum Beispiel ist nicht jedes neue Produkt automatisch erfolgreich. Es müssen andere Faktoren dazukommen. Zum Beispiel eine bestimmte Stimmung — wie die der Frauen nach dem 2. Weltkrieg, die sich an Arbeit und eigenes Einkommen gewöhnt hatten. Oder es muss eine kreativ-kulturelle Dimension dazukommen, wie beim iPhone auch das Design. Innovation ist also viel komplexer in ihrer Bedeutung und ihren Wirkungen als sie üblicherweise verstanden wird.
All das fasst am besten ein ganz anderer Denker zusammen, der sich schon um 1900 mit dem Thema der Innovation beschäftigt hat: der französische Jurist und Soziologe Gabriel Tarde verstand Innovation umfassend als alles, was sozial relevant ist, als:
»jede beliebige Neuerung oder Verbesserung in jeglicher Art von sozialen Phänomenen wie Sprache, Religion, Politik, Recht, Industrie oder Kunst. […] Die wirklichen Ursachen der Veränderungen [...] bestehen aus einer Kette von allerdings sehr zahlreichen Ideen, die jedoch verschieden und diskontinuierlich sind, obwohl sie durch noch viel zahlreichere Nachahmungshandlungen, deren Vorbild sie darstellen, miteinander verbunden werden.«[iv]
Wenn Innovation verändern will, muss sie sich auch ihrer gesellschaftlichen und kulturellen Verantwortung stellen. Sonst ist sie selbst nur ein jederzeit durch ein neues Produkt verdrängbarer Konsumgegenstand.
[i] Marx, Karl (1872/1986): Das Kapital (Marx-Engels-Gesamtausgabe – MEGA) 2, II.6. Berlin, 476.
[ii] Schumpeter, Joseph (1942/2003): Capitalism, Socialism and Democracy. London, New York, 83.
[iii] Mazzucato, Mariana (2014): The Entrepreneurial State. London, New York, Dublin, 207.
[iv] Tarde, Gabriel (1890/2003): Les lois de l'imitation, zit. n. d. dt. Ausg.: Die Gesetze der Nachahmung. Frankfurt a.M., 26.
Über den Autor
Alexander Bretz, Jahrgang 1964, machte vor seinem Studium der Rechtswissenschaften in Mainz eine Lehre zum Verlagskaufmann in Frankfurt a. M. Nach dem zweiten juristischen Staatsexamen in Berlin arbeitete er als selbstständiger Rechtsanwalt und Unternehmensberater, nebenher von Anfang an auch als Dozent für Wirtschafts- und Designrecht sowie Rechtsökonomik (Law and Economics). Eine besondere Expertise entwickelte er in der Beratung von Gründungsunternehmen in der Mode-, Design- und Musikbranche. 2004 wurde er von Enquete-Kommission Kultur in Deutschland des Deutschen Bundestages zu seiner Einordnung und Einschätzung der Public-Private-Partnership im Kulturbereich befragt und drückte dabei inzwischen weithin bestätigte grundsätzliche Bedenken gegen diese Form der Kulturfinanzierung aus. 2018 bestellte ihn die Burg Giebichenstein Kunsthochschule Halle zum Honorarprofessor für Designrecht und Existenzgründung. 2020 wurde er mit einer Arbeit über »Kredite für Kreative«, die Fremdfinanzierung in den Kreativbranchen am Beispiel der Berliner Modeszene, von der Hochschule für Musik und Theater Hamburg zum Dr. phil. promoviert. Neben seiner Honorarprofessur in Halle ist er seit vielen Jahren als Dozent an Hochschulen in Deutschland und im Ausland tätig. Er ist Mitautor von Büchern zu Existenzgründung, Finanzierung und Rechtsfragen im Design und lebt in Berlin und in der Normandie (Frankreich).
Zuletzt geändert: Mittwoch, 15. Oktober 2025, 22:53