Wiki: Affektionsbilder in Philosophie und Film
Affektion von der Antike bis Frühmoderne
Affekt und Affektion sind philosophisch alte Begriffe, die freilich nicht immer in ein eindeutiges Verhältnis zueinander gebracht worden sind. Sie stammen aus der spätantiken bzw. frühen lateinischen Literatur und stellen Übersetzungen des griechischen Terminus “pathos“ dar, welchen Augustinus im 5. Jahrhundert als „affectio, affectus, passio et voluntates“ wiedergibt. Damit schreibt er dem pathischen Vorgang, der von Aristoteles mit der Passivität der Wahrnehmung gleichgesetzt worden ist, eine affektive Beweglichkeit zwischen Leidenschaft und Willensregung zu und stößt damit eine Ausdeutung des Menschen als vielfältiges und gegenstrebiges Wesen an.
In der europäischen Frühzeit wurde der Begriff denn auch zur Ausdifferenzierung der menschlichen Fähigkeiten in Einsatz gebracht. Thomas von Aquin gesteht dem Menschen verschiedene innere und äußere Sinne und verschiedene Strebevermögen zu, obwohl er grundsätzlich passiv, weil von Gott geschaffen, sein soll. Diese Gegenläufigkeit von Leiden und unbewusster Affizierung einerseits, von Wollen, Lieben und Streben andererseits speist noch die Überzeugungen der modernen Anthropologie, wie sie von der Psychoanalyse und der phänomenologischen Philosophie seit Beginn des 20. Jahrhunderts vertreten wird.
Affektion im Poststrukturalismus
Der französisch-poststrukturalistische Diskurs der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts radikalisiert demgegenüber die Annahme, dass das menschliche Subjekt ein Produkt der natürlich-kulturellen Umgebung und weniger selbst bestimmt als vielfältig affiziert und vorstrukturiert ist. Zunächst unterstehe es wie alles Irdische der Zeitlichkeit, weshalb es immer in einem Anders-Werden begriffen sei. Maurice Merleau-Ponty versteht Zeitlichkeit als primären, sich selbst grundlegenden Affizierer, insofern diese als unendliche Vergangenheit sich selbst vorausläuft und in gegenwärtigenden Augenblickssynthesen unausgesetzt je anders ergreift und wiederholt: „Die Zeit ist Affektion ihrer selbst durch sich selbst. (…) Affizierendes und Affiziertes sind ein und dasselbe“.1 Auch die menschliche Subjektivierung wird als sich unbewusst vorauslaufend und selbstaffizierend gedacht; ihr Bewusstsein soll wie in Sigmund Freuds[1]Deutung aus einem „Umschlag“ des Unbewussten in eine komplexere Qualität hervorgehen. An Analogie dazu wird auch Kunstwerken aufgrund ihrer Einbettung in vorgängige aisthetische[2] und zeitliche Prozesse - und heute zudem in digitale audiovisuelle Verweisungszusammenhänge - eine über die Intention der Künstler*innen und Betrachter*innen hinausgehende affektive Autogenese zuerkannt.
Übertragung von der Phämenologie auf Kunst und Film
Gilles Deleuze überträgt die Annahmen der Phänomenologie in den Bereich der Kunst und des Films und erblickt deren besondere Potenz in der Hervorbringung unbekannter, nicht-menschlicher Affekte, in der Reaktualisierung [3] unbewusster und (präin)dividueller Daten und damit in der Artikulation neuer Perzepte und Konzepte. Die Malerei von Francis Bacon liest er als Prozesse der Entkonturierung und Entstellung menschlicher Porträts, als Freilegung der gehäuteten Affektivität des Körpers und damit als Vorgang der Dekonstruktion der Repräsentation und des Klein-Werdens des Menschen; sie sind für ihn die einzige Möglichkeit, um an das gesamtgesellschaftliche Feld anzubinden, dessen Unbewusstes zu artikulieren, gattungsübergreifende Verflechtungen hervorzukehren und darüber politisch zu agieren.Seine Insistenz auf den Affekt der Kunst ist von dem Gedanken geleitet, dass er formale und Bedeutungshierarchien kippen und eine Egalität der Artikulation heraufführen kann, die das bis dato Nichtgesehenes und Nichtgehörtes wahrnehmbar werden lässt. Mit gewissen Literaturen verbindet er Vorgänge des Kleinwerdens der Sprache und des „Unscheinbar-Werdens“ des Äußerungssubjekts in Arten des „Frau- und Tier-Werdens“: So gebe Kleists „Penthesilea“ [4] jede gefühlsmäßige Innerlichkeit preis, um zu einem Vektor aus Affekt und Geschwindigkeit zu werden und sich in einem passionellen Einfangen mit dem Anderen schließlich selbst zu verzehren. Damit einher geht ein gestisches Affekt-Werden des Sprechens, in welchem sich die Sprache an die eigene Grenze treibt. Im Bereich des Filmbilds isoliert Deleuze den Typus des „Affektionsbilds“, wie das „image affection“ hier an Stelle der deutschen Übersetzung als „Affektbild“ [5] wiedergegeben werden soll. Obwohl der Gattung des „Bewegungs-Bilds“ [2] zugeordnet, soll es gerade durch Entzug auf motorischer und narrativer Ebene, durch Verweigerung seiner Indienstnahme für die Handlungswiedergabe und durch Selbstpräsentation des Bildlichen gekennzeichnet sein. Deleuze nennt es einerseits einen Bildtypus und andererseits Bestandteil aller Bilder, da es für die Selbstaffizierung [6] des Films, seinen affektiven Zusammenhalt verantwortlich ist. Da es zudem von den raumzeitlichen Koordinaten abstrahiert, kommt es in ihm zu einem Umschlag der Bewegung in Ausdrucksqualität. Indem es die filmische Narration unterbricht und zum Innehalten zwingt und die tiefenräumliche Wiedergabe verflacht, präsentiert es das Aufgenommene in Nahsicht und bietet es gleichsam der taktilen optischen Erfassung an. Seine affektiven Selbstaufladungen erfolgen gleichwohl unterschiedlich intensiv: Es bildet unterschiedliche Affekte zwischen dem reflexiven und expressiven Modus, zwischen Wiedergabe bildlicher Geschlossenheit oder Heterogenität aus. Der Einstellungsmodus der Groß- und Nahaufnahme führt je nach zeitlicher Dauer des Bewegungsstillstands, der Nähe und Konturiertheit des Präsentierten und der übergroßen Projektion von Gesichtern im Kino zu verschiedenen Aufladungen. Deleuze schreibt dem Affektionsbild allgemein den Ausdruck von Gesichtlichkeit zu, auch wenn das Überausgestellte wie im Falle von Eisensteins zitterndem Teekessel kein menschliches Gesicht hat. Ja, auch das menschliche Gesicht, etwa das Stargesicht, wird aufgrund der Größe der Projektion tendenziell entmenschlicht und in eine Art Landschaft, in Unbekanntes transformiert, das nunmehr zurückblickt und die Betrachter*innen irritiert. Je nachdem, ob das Gesicht eher eine konturierte Einheit oder eine Reihe intensiver Kontraste aus schwarzen Löchern und weißen Wänden ist, wird ihm Reflexivität oder Expressivität, wird ihm der Ausdruck von Staunen oder von Begehren zuerkannt. Besonders im letzteren Fall, wenn wie bei Eisenstein „kontinuierliche Intensitätsreihen“ (129) geschaffen werden, „die jede binäre Struktur überschreiten und die Dualität des Kollektiven und des Individuellen überwinden“, soll sich eine neue Realität einstellen, die Deleuze das „Dividuelle“ (129) nennt. Er skizziert hier neue Durchdringungs- und Teilhabeverhältnisse zwischen dem Kollektiven und Individuellen, die zu dividuellen Affektionsbildern Anlass geben. Diese können durch ungewöhnliche Kadrierungen, heterogene Montagen, Gegenläufigkeit und Intervallbildung von Bild und Ton, durch irritierende Soundkollagen oder Inszenierungsweisen zusätzlich verstärkt werden. Ich habe sie in meiner Schrift „Dividuationen. Theorien der Teilhabe“[3] auf zeitgenössische menschliche Subjektivierungen, aber auch Kunstwerke weiterzudenken versucht.
Filmische Selbstaffizierung
Filmische Selbstaffizierung ergibt sich heute – weitergehend als Deleuze dies im Rahmen seiner „Bewegungsbild“-Darlegungen deutlich werden lässt – vor allem aus dem Bestreben, zeitliche Prozesse auszustellen und das Werden als solches auch in einzelnen Einstellungen aufscheinen zu lassen. Bei dem Versuch, metamorphotische und minimalvariante Prozesse in angemessener Dauer und Filmzeit anschaulich werden zu lassen, wie es in den Filmen von James Benning geschieht, lädt sich das Bild von selbst auf, verliert seinen Abbildcharakter und wird zu intensivem Affektausdruck. Gesicht (face) und Auslöschung (effacement) gehen dann ineinander über, das Abgebildete entbildet sich zu unbekannten Figuren: „Das Gesicht nimmt so am nichtorganischen Leben der Dinge“ (130) teil. Der Übergang vom Affektions- zum Zeit-Bild erweist sich hier als fließend, insofern bereits dem ersterem die Fähigkeit zukommen kann, in einzelnen Einstellungen ein Bild der Zeit zu präsentieren. Im besten Fall wird die Selbstgrundlegung der Zeit, sprich der Übergang zwischen vergangen-virtueller und sich aktualisierender Zeit in unbewegten Einzeleinstellungen wie in Bennings Filmen anschaulich und stiftet den besonderen nicht-menschlichen Affekt des Films. In Was ist Philosophie?[4] akzentuiert Deleuze mit Félix Guattari ein letztes Mal das Dividuell- und Unpersönlichwerden des Affekts: „Die Affekte sind genau jenes Nicht-menschlich-Werden des Menschen, wie die Perzepte die nicht-menschlichen Landschaften der Natur sind“ (199). Mit dem Film verbinden sie die Hoffnung, in Bild und Ton andere als anthropomorphe Äußerungsweisen, nicht-menschenförmige Aspekte von Umwelt und Welt und genuin filmische Affizierungs-, Wahrnehmungs- und Denkweisen präsentiert zu bekommen, die das menschliche Selbstverständnis erschüttern. Da der Film dank seiner technischen Bewegtheit jede Figuration tendenziell fortgesetzt transformiert und zusätzlich achronologische Sprünge, zeitliche Vor- und Rückgriffe einbauen kann, gelingt ihm in privilegierter Weise, das Endliche auf das Unendliche, das Individuelle auf das Dividuelle transparent werden zu lassen: „Alle Empfindungen befreien (…); öffnen und spalten, dem Unendlichen gleich werden. Vielleicht liegt darin das Eigentümliche der Kunst: das Endliche zu durchlaufen, um das Unendliche wiederzufinden, zurückzugeben“ (234). Zeit und unbekannte Affekte stiften: Die Einlösung des erkenntnistheoretischen und ästhetischen Ziels, den bekannten Affekt auf unterschwellige und nicht-menschenförmige Affizierungen zu öffnen, im Denken das Undenkbare hervorzukehren und mit der eigenen Unfähigkeit des Denkens zu konfrontieren, gelingt bevorzugt in der Kunst. Der unbestimmte künstlerische Affekt ruft dann jenes Verwundern und Begehren hervor, aus dem das Philo-Sophieren geboren sein will.
Weiterführende Links
Prof Dr. Michaela Ott, "Das filmische Experiment"
Video: Vortrag beim Kongress Offensiv Experimentell am 3. - 4. Dezember 2013, in der HFBK Hamburg.
[1] Maurice Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin, 1966, S. 25.
[2] Gilles Deleuze, Das Bewegungs-Bild. Kino1, Frankfurt/M., 1997.
[3] Michaela Ott, Dividuationen. Theorien der Teilhabe, Berlin, 2015.
[4] Gilles Deleuze/Félix Guattari, Was ist Philosophie?, Frankfurt/M., 1996.