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Vortrag 05: Helga Neira Zugasty - Inklusion/Rhythmik/Entwicklungsdynamik

Abschlussbedingungen

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Helga Neira Zugasty, Sonderpädagogin (1965 – 2006), Rhythmikerin, Lehrbeauftragte für Didaktik und Praxis der Rhythmik in der Inklusions- und Heilpädagogik an der Universität für Musik und darstellende Kunst, Wien (1995 – 2014), Projekte für inklusives Musizieren, Arbeiten und Wohnen.

 
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Mehr Informationen dazu auf der Homepage der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien: Entwicklungsraster TPO


Inklusion – Rhythmik – Entwicklungsdynamik

Herzlich Willkommen und schönen Gruß aus Wien. Ich freue mich  dass ich Ihnen unser langjähriges Forschungsprojekt über Entwicklungsbeobachtung präsentieren kann und bedanke mich im Besonderen bei Alexander Riedmüller für diese Gelegenheit. 

Lernen in fähigkeitsgemischten Gruppen bedeutet eben wörtlich: dass  jedes Gruppenmitglied seine  individuellen Fähigkeiten in Lernprozessen aktivieren, einsetzen und weiter entwickeln kann.

Gruppen von Menschen mit sehr unterschiedlicher Reife und Ausprägung ihrer Fähigkeiten und Verhaltensweisen implizieren für das pädagogische Handeln einen Paradigmenwechsel  von inhaltlicher Leistungsbewertung, - bemessung hin zum Erkennen von individuellen Kapazitäten mit denen sinnvolle Teilhabe an den Lernsituationen einer Gruppe möglich ist. Nicht Defizite und deren Vermeidung sondern funktionelles Erfassen von Fähigkeiten und deren Unterstützung bestimmen das pädagogische Handeln 

Georg Feusers Definition von Inklusion (damals noch Integration) ist gleichsam wie ein didaktischer Leitfaden zu verstehen.  Inklusives Lernen heißt, dass alle Schüler und SchülerInnen  ohne Ausgrenzung in Kooperation miteinander, gemäß ihren jeweiligen Entwicklungsniveau an einem gemeinsamen Thema, Projekt, Inhalt spielen, lernen und arbeiten können. Inklusion ist eine interaktive, kommunikative, dialogische Tätigkeit im Kollektiv (–auch kokreativ könnte man ergänzen.)

Für mich sind für entwicklungsförderliches, kindorientiertes pädagogische Handeln drei Parameter wesentlich:
  • Empathie: da geht es um das Erfassen dessen, was bei meinem Gegenüber im Kopf, in den Emotionen und im Körper vorgeht.                                                    
  • Didaktisches Können: dafür braucht es schon in den Ausbildungen viel mehr praktische Erfahrungsmöglichkeiten, und lebenslang nie ermüdende Neugierde, Übung, Reflexionsbereitschaft , Teamarbeit  u.a.m.
  • Entwicklungsorientierte Beobachtung, Analyse und Dokumentation von Lernsituationen als Basis für die Reflexion der eigenen Praxis.

2006 konnten wir in Wien ein Forschungsprojekt in Kooperation zwischen der Musikuniversität Wien, also unserem Institut für  Musik und Bewegung/Rhythmik sowie Musikphysiologie und dem Institut für Bildungswissenschaften der Universität Wien realisieren. Wir kombinierten die Schlüsselerkenntnisse von unterschiedlichen Entwicklungstheorien (Piaget, Keagan, Ciompi u.a.). Karl Garnitschnig erstellte die Theorie der psychischen Funktionen und Operationen und ich erarbeitete die Dokumentation und Analyse der praktischen Beobachtungssituationen. Es ist immer noch work in progress, . 

Die Arbeitsgrundlagen in Form einer Tabelle der psychischen Funktionen, die Erläuterungen dazu inklusive einem Film sowie der Forschungsbericht selbst sind auf der homepage der mdw abrufbar.

Warum noch immer Piaget?
Seine  prozesshafte Art der Beobachtung, wie Kinder zu Erkenntnissen gelangen macht uns Beteiligte alle gleichermaßen zu  gleichwertigen PartnerInnen mit unterschiedlichen Kompetenzen und Verantwortlichkeiten. 

Es geht  um die Beschreibung (nicht Beurteilung) der funktionellen Bedeutung von Handlungen, Handlungsschritten, nicht um Inhalte 

Wir haben keine Relation zu Altersangaben. Es ist unerheblich für die Gestaltung von Angeboten auf welcher Zeitskala sie angesiedelt sind – erheblich ist, ob die Aufgabenstellungen den aktuellen Möglichkeiten der Person entsprechen. 

Worum geht es dabei?
In jeder Handlung aktivieren wir in unterschiedlicher Intensität jene Funktionen, mit denen wir von Anbeginn unserer Entwicklung an unser inneres Bild von Welt aufbauen. Diese Funktionen sind: bewegen, empfinden/ wahrnehmen, denken, sprechen, sozial emotional handeln, wollen, intuieren/kreativ sein, erinnern/merken. 

*Bild Führen-Folgen

In jeder Handlung aktivieren wir alle acht Funktionen, jedoch mit unterschiedlicher Intensität und unterschiedlichen Schwerpunkten. Diese können natürlich auch unterschiedlich zur Intention des Lehrers sein. 

  • Bewegen: Die beiden Kinder bewegen sich in langsamen, vorsichtigen Schritten zur Flötenimprovisation, führen feinmotorisch sich gegenseitig über den Handkontakt. 
  • Wahrnehmen: Sie integrieren mehrere Wahrnehmungen –hören, taktiles,  Raumwahrnehmung, Bewegungen der anderen Kinder u.a.m.
  • Denken: Sie kombinieren mehrere Schemata als Denkprozess
  • Sprechen: Sie setzen die sprachliche Anweisung der Aufgabe um
  • Soz. em Handeln: Sie gliedern sich dem Gruppenprozess ein, fühlen sich in den andere ein, 
  • Wollen: sie sind voll aufmerksam bei der Sache
  • Intuieren, Kreativ sein: sie haben ein inneres Bild des Ablaufs und  lassen sich auf den Versuch ein
  •  Erinnern, Merken: und sie setzen aus der Erinnerung ihr Wissen über die Details der Situation ein.

Alle diese Funktionen sind bereits in den überlieferten Dokumenten unserer früheren Rhythmiklehrmeister als wesentliche Elemente  des Verfahrens  Rhythmik beschrieben worden: Sie können es nachlesen bei Dalcroze,  Feudel, Scheiblauer, Pfisterer, Glathe, Frohne. Konrad, Bühler/Thaler. Sie alle gebrauchen Beschreibungen für diese Funktionen.… Auch für mich war sofort evident, dass diese Funktionen genau den Anspruch unseres Verfahrens Rhythmik wiedergeben, nämlich die Persönlichkeit in ihrem gesamten Potenzial anzusprechen.

Jedoch die Aufschlüsselung jeder einzelnen Funktion in jene Handlungsschritte, die ein Mensch  in mehr oder weniger logischer Abfolge von der sensorischen bis zur formalen Entwicklungsphase erwirbt, war für mich eine wirklich herausragende Neuigkeit, vor allem eine Chance, Entwicklungen aus der Situation heraus nicht nur beobachten, sondern genau beschreiben, analysieren und dokumentieren zu können.

Wir haben in der Tabelle der psychischen Funktionen nun in den einzelnen Funktionsbereichen die Handlungsschritte dahingehend aufgelistet, dass einerseits nicht zu detailliert vorgegangen wurde, um die Praktikabilität des Rasters nicht zu gefährden, es andererseits aber auch nicht zu große Sprünge gibt, sodass doch die Lernsituationen ihrem Funktionsgehalt mit spezifischen Begriffen entsprechend erfasst und beschrieben werden können. Horizontal sind die Funktionen mit Großbuchstaben gekennzeichnet, vertikal die einzelnen Handlungsschritte durchnummeriert.

Schauen wir uns eine Videosequenz an, die im vorigen Sommer auf einem Tanzcamp des Kultur – und Bildungsvereins „Ich bin O.K.“ aufgenommen wurde. Wir arbeiteten am Thema: Formen darstellen. Die Gruppe von Alex (der große Bursch mit dem roten Punkt am T-shirt) kreierte zum Abschluss eine Sequenz zur Form rund. Alex macht bereits das 6. Jahr mit, schaffte es diesmal fast durchgehend ohne direkte 1:1 Begleitung mitzumachen. Die Aufgabengestaltung ist so, dass Gruppenmitglieder mit ganz unterschiedlichen Fähigkeiten ihr Können, ihre Vorstellungen einbringen können, die  Lehrenden zugleich aber auch beachten, welche Schwerpunkte sie bei jedem Mitglied unterstützen wollen. Auch entschied Alex, wo er mitmachen kann bzw. besser einfach beobachtend bleibt. Auch wenn es scheint, dass er abdriftet, kriegt er doch genau mit, was sich um ihn herum abspielt.

*Sequenz Alex

Analyse auf der Tabelle

  • A  13     –    A  16   Übernahme wahrgenommener Bewegung in die eigene Bewegung
  • B  7/9   –    B  17      Integrieren von Wahrnehmungen aus verschiedenen Sinnen, zwei Merkmale miteinander verbinden, aufeinander abstimmen
  • C  7/9   –     C  9        zielgerichtetes intentionales Handeln, Kombination mehrerer Schemata
  • D  23     –     D  23  intentionales Kommunizieren
  • E  8/14   –  E 18  Kontakt/Anerkennung suchen, Beziehungen aufnehmen um seine Bedürfnisse zu befriedigen
  • F 9/10/ 20   –     F  12 !! Aufmerksamkeit von Gegenständen, Personen gesteuert, er erkennt                      seine Grenzen, kann sich selbst einschätzen
  • G  5        –      G 5  ein inneres Bild von Abläufen haben
  • H  8        –       H  8 Wiederholen von Bewegungen, Inhalten

Die Musikbegleituung wurde jeweils von einer der anderen drei Gruppen live improvisiert hier spielte die Gruppe, die die Form des Dreiecks vertanzte.

Unsere LehrerInnen wissen, dass Alex sich in vielen Funktionen in der sensorischen Phase bewegt. Was aber in dieser Beobachtungssituation als neue Erkenntnis zutage kam war, wie genau Alex einschätzen kann, ob eine Bewegungsfolge für ihn zu komplex ist, er also besser einfach zuschaut und zugleich aber  den Zeitpunkt gut checkt, wann er wieder einsetzen kann. Dieses Kriterium hatten wir ihm bis dato eigentlich nicht zugetraut, und geschätzt wie intensiv er dabei ist, auch wenn er nicht aktiv ist. Hier setzt er eine Opertation als der konkret/anschaulichen Phase ein.

Eine nach diesen Gesichtspunkten  genaue Analyse von Lernsituationen ist in mehrfacher Hinsicht hilfreich:

Von der Didaktik her kann ich mir Klarheit verschaffen, welche Anforderungen eine Aufgabenstellung überhaupt beinhaltet welche Handlungsschritte erforderlich sind, damit die Aufgabe sinngemäß umgestzt werden kann. Speziell in nicht gelingenden, bzw, wiedeholt nicht gelingenden Situationen gewinnt man Erkenntnisse, in welchen Bereichen von den Inhalten und der Struktur der Aufgabe die Schwierigkeiten liegen und kristallisiert sich  in fortlaufender Beobachrung quasi ein roter Faden heraus, mit welchen Möglichkeiten eine Person Lösungen findet oder aber auch Anforderungen vermeidet, diese umgeht.

Der breite Überblick gibt mir Orientierung bei noch nicht ausgereiften Handlungsschritten  man findet  jene früheren Positionen, mit denen sich eine Person aktivieren kann und von dort sich weiterentwicklen kann. Niemand arbeitet mit seinen Defiziten, sondern mit seinen aktuellen Möglichkeiten.

Binnendifferezierung der Lerninhalte und Lernsituationen ist das Hauptkriterium für inklusive Lernsituationen, dafür ergeben diese Analysen genauere Erkenntnisse. Z. B.:
  • wo Überforderung bzw. auch Unterforderung geschieht, 
  • wo Kinder beispielsweise Handlungsschritte blockiert haben und auf andere Lösungen ausweichen, 
  • auf welchem Level in dieser Gruppe die gemeinsam mögliche Ausgangsbasis für die Binnendifferenzierung gefunden werden, bzw. in welche Richtung differenziert werden kann oder soll, 
  • welche Strategien für individuelle Förderungen ins Gruppengeschehen eingebaut werden können (auch wenn andere Gruppenmitglieder differenzierter arbeiten können, liegt die Anforderung beispielsweise bei gemeinsamen einfachen Schrittkombinationen eventuell für jene Kinder in mehr Genauigkeit oder in der Hilfestellung als Partnerin  etc.

Die sachbezogene Beschreibung aus den Beobachtungsprtotkollen, was einzelne Gruppenmitglieder in unserem Unterricht entwicklungsmäßig tasächlich zeigen .  ist oft mehr und anderes, als wir spontan während des Unterrichtens mitkriegen. Meistens beachten wir zu wenig, weieviele Anforderungen zugleich auch in einer recht einfachen Aufgabe zu bewältigen sind.  

Es ist auch hilfreich für unklare, gelegentlich sogar konfliktive Situationen, zur Klärung in Teamgesprächen oder in Elterngesprächen auf der Tabelle Nachschau zu halten.  Die begleitende Arbeit mit dem Entwicklunsgraster gibt mir unkompliziert, spontan, ohne zusätzlichen Aufwand die Möglichkeit, jederzeit meine eigene Praxis auch nach entwicklungspsychologischen Kriterien reflektieren zu können.

Rhythmisch- musikalsiche Erziehung hat die Funktion und das Potenzial eines künstlerisch-pädagogischen Basisverfahrens generell, aber mit besonderer   Bedeutung für fähigkeitsgemischte Gruppen, weil  Rhythmus als solcher sich aus jenen  Bedingungen und Eigenschaften konstituiert, die gleichermaßen handlungsleitend für kindgerechtes, entwicklungsförderliches pädagogisches Handeln.

Wir haben unsere Definitionen für das Verfahren Rhythmik – und doch  setzt jede/r von uns in der gelebten Praxis seine Ausdrucksformen dafür um. Genauso verhält es sich mit Inklusion.  Die UnBRKV definiert sehr klar, was mit dem Begriff Inklusion gemeint ist , wie er zu verstehen und umzusetzen ist– aber es liegt an jedem/jeder von uns ihn in seiner oder ihrer persönlichen Welt lebendig zu machen, in unserer Gesellschaft zur Wirkung zu bringen.  Derzeit hat Inklusion im Sinne der Teilhabegerechtigkeit noch zu wenig Resonanz, nicht nur im Bildungssystem, sondern im Leben von uns allen als Gesellschaft.

 Ich würde mich freuen, von Ihnen Feedback zu erhalten  und mit Ihnen über diese Aspekte des Verfahrens Rhythmik austauschen zu können: hneira2002(a)wins.wien

Zuletzt geändert: Dienstag, 20. Februar 2024, 13:07