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Rhythmik in der Freizeitstätte für Senior:innen - Barbara Tzschätzsch

Abschlussbedingungen

1. Allgemeine Überlegungen

Mit der Musikgeragogik ist ein umfänglicher und unabgeschlossener Forschungs- und Arbeitsbereich geschaffen, der musikalisches Lernen und Bildung im Alter umfasst. In der Alternsforschung wird unterschieden zwischen dem frühen und dem höheren Alter. Die subjektive Zugehörigkeit zu der einen oder anderen Gruppe ist über weite Zeiträume schwankend. 
Das frühe Alter nach Beendigung der Berufstätigkeit und wenig gesundheitlichen Beschränkungen lässt Raum für neue oder wieder aufzugreifende Interessen und Unternehmungen, die aufgrund anderer vorheriger Pflichten nicht verwirklicht werden konnten. Diese Phase kann als befreiend und positiv erlebt werden, sie enthält in einer näheren Zukunft Perspektiven des Zuwachses von Lebenssinn. 
Im höheren Alter entfallen viele Funktionen, die zuvor für die Verwirklichung von Zielen  selbstverständlich und ohne Einschränkungen gegeben waren. Dass ältere Menschen auch bei starker Beeinträchtigung ihrer Gesundheit und dem zunehmenden Verlust von Autonomie dennoch zur Zufriedenheit tendieren legt die Annahme nahe, dass die Sinngebung entsprechend der persönlichen Verfassung subjektiv neu verortet wird, bis hin zu einem Rückzug auf die unmittelbare Umgebung und den Körper.


2. Musik erleben

Mit der Arbeitsweise der Rhythmik stehen durch Verknüpfung von Musik und Bewegung die Wege für sinnliche und ästhetische Anregungen offen. Der Körper korrespondiert oft sichtbar mit den Schwingungen der Musik. Oft findet eine innere musikalische Bewegtheit statt, die für andere kaum merklich und unsichtbar bleibt. 
Es bedarf für die Teilnahme an einer Rhythmikgruppe für alte und ältere Menschen keiner musikalischen Vor- oder Fachkenntnisse. Es gibt keine Leistungsstandards, die zu erfüllen sind. Unabhängig von der individuellen Lernbereitschaft und Mobilität steht hier im Zentrum der rhythmisch-musikalischen Arbeit die Ermöglichung von Erfahrungen durch Musik und Bewegung.
 
Die Erlebnisse durch aktive Tätigkeit am Platz, im Raum und in einer Gruppe bieten Menschen jeden Alters eine Erfahrungswelt jenseits alltäglicher Abläufe. In der Wechselbeziehung mit Musik erleben die Teilnehmenden (TN) eine Sensibilisierung der Sinne, der Gliedmassen und des ganzen Körpers. 
In einer Gruppenstunde finden Aktionen in unterschiedlichen Sozialformen statt. Die TN bewegen sich als Gruppe, auch zu Paaren, die rasch wechseln können oder solistisch. Immer befinden sich die TN im Kontakt mit anderen, aktiv oder beobachtend, ob nah miteinander oder ferner voneinander im Raum.
Mit Erfahrungen aus dem regelmäßig besuchten Rhythmikunterricht können die TN in einer Atmosphäre der allseitigen Anerkennung, in der eigene Lösungswege ohne Wertung ausprobiert werden können, sich „etwas trauen“. Die Suche nach sinnvoller Gestaltung von musikalischen Prozessen in der Verbindung mit Bewegung fördert die Kreativität und kann die Lust am persönlichen Ausdruck immer wieder neu wecken. 
 
Mit der Aufmerksamkeit auf momentane musikalische Hörerlebnisse bei gleichzeitiger Fortbewegung auf wechselnden Raumwegen und in Korrespondenz mit anderen kann gerade für ältere Menschen eine wichtige Wachheit in ihrer Motorik bei der Orientierung im Raum erhalten bleiben und gefördert werden. 


3. Zum Ablauf 

In der Vorbereitung auf eine Unterrichtseinheit (UE) richte ich mich darauf ein, dass für einzelne vor Beginn ein Gespräch mit persönlichen Mitteilungen wichtig sein kann. Die TN der beschriebenen Gruppe im Alter zwischen 56 und 84 Jahren kommen eigenständig zu dem barrierefreien Raum.
Ich wähle Unterrichtsinhalte aus - auch aus Wünschen und Vorschlägen der TN -, die ich selbst für wertvoll halte, und die ich den TN gern nahe bringen oder vermitteln möchte. Dies bezieht sich auf rhythmische Bewegungsangebote, Lied-, Musik- und Materialauswahl, auf Hintergrundinformationen zu Musikstücken oder choreographische Überlegungen. 
 
Während einer UE von 90 Minuten gibt es aktive und ruhige Phasen. Als Ritual beginnen wir im Stuhlkreis mit einem Begrüßungslied. Eine darauf folgende Einladung zur Bewegung kann noch im Sitzen stattfinden. Für eine Bewegung im Raum werden die Stühle an den Rand geschoben. Es findet eine Aufwärmung, eine Aktivierung der Atmung, der Gliedmassen und des Körpers statt.
 
Nach einer aktiven Phase kehren wir zum Stuhlkreis zurück. Hier kann gerade Erlebtes reflektiert werden. Im Sitzkreis erklingen Lieder, die den TN - auch von ihnen selbst - vorgeschlagen werden und die mehrheitlich ausgewählt und gern gesungen werden. Auch das bewusste Hören eines Musikstückes oder ein vorbereitendes Bewegungsspiel können im Sitzen am Platz stattfinden, um anschließend wieder im Raum aktiv zu sein. Der Film zeigt eine Bewegungsform zu dem Frühlingslied „Tiritomba“ aus Italien.
 
Ich beabsichtige, Neugier zu wecken, zum Mitmachen zu ermuntern oder es zu akzeptieren, wenn TN dies nicht wünschen und zuhören oder zuschauen möchten. Allen TN gegenüber nehme ich eine gewährende Grundhaltung ein, um aktuelle Stimmungen aufzunehmen, Inaktivität zu akzeptieren oder um vorhandene Bereitschaft zur aktiven Beteiligung zu stärken. Die Planung der UE ist so angelegt, dass ein günstiger Verlauf jederzeit möglich ist. Das bedeutet, mal mehr anzubieten oder mal weniger aufzufordern, um mit allen TN in einem dialogischen Miteinander zu bleiben. 
 
Einzelne musikalische Parameter können in die Aufmerksamkeit genommen werden, wenn Musik erklingt: Lautstärke, Tonhöhen, Dynamik, Melodik und Phrasierung, Harmonik oder Rhythmus. Bewegungsangebote zu den Hörerlebnissen rücken die Aufmerksamkeit in neue Bahnen. Es findet ein spontanes Ausprobieren mit anderen Personen im Raum statt. Nach und nach kann mit der Gruppe eine Choreographie entstehen. Im besten Fall erleben sich alle TN sinnvoll beteiligt und es kann ein Bewegungserlebnis geschehen, das das Hören im Sinne der rhythmischen Arbeitsweise durch die räumliche Dimension weitet. 

Das Experimentieren mit Materialien und das Musizieren mit elementaren Instrumenten bieten diverse Spielformen zum Improvisieren und zum Begleiten von Musik an, aber auch für die Entwicklung von Tanzgestaltungen. Von einer Phase des Ausprobierens kann es mit einem Musikangebot übergehen in eine gebundene Form: Mal basiert durch ein gesungenes Lied, durch ein instrumental vorgetragenes Stück oder durch Musik vom Tonträger. 

Die UE klingt mit einem gemeinsam gesungenen Abschiedslied aus, mit der Aussicht auf ein frohes und gesundes Wiedersehen.

Gern gesungene Lieder und eingeübte Tanz-Formen bilden Teil eines Repertoires, das bei Aufführungen gezeigt werden kann. 
  • Theo Hartogh, Hans Hermann Wickel: Musikzieren im AlterArbeitsfelder und Methoden. Verlag Schott, 2008
  • Brigitte Vogel-Steinmann: Was ist Rhythmik?, Analyse und Bestimmung der rhythmisch-musikalischen Erziehung, Gustav Bosse Verlag 1979
  • Dorothea Weise: Arbeitshilfe, Spektrum Rhythmik, Musik und Bewegung/Tanz in der Praxis, VdM Verlag, Bonn 2013
  • Metz, Johanna/ Pauls, Regina: Grundgedanken zur künstlerisch-musikalischen Arbeit mit Gruppen im späten Erwachsenenalter in: Juliane Ribke/ Michael Dartsch (Hg.): Gestaltungsprozesse erfahren, lernen, lehren, Texte und Materialien zur Elementaren Musikpädagogik. ConBrio Verlagsgesellschaft Regensburg 2004, Fachbuch, Band 11
  • Marlis Marchand: „Gib mir mal die große Pauke“, Musikalische Gruppenarbeit im Altenwohn- und Pflegeheim, Musikgeragogik, Bd. 1, Waxmann Verlag GmbH, 2012
  • Philipp Mayring und Winfried Saup (Hrsg.): Entwicklungsprozesse im Alter mit Beiträgen von I. Fooken, J. Wickert, M Schuster, U. Fleischmann, F. Dittmann-Kohli, I Deusinger, P. Mayring, W. Saup. Verlag W. Kohlhammer Stuttgart; Berlin; Köln, 1990
  • Verband deutscher Musikschule (VdM): Musikschule im Wandel, Inklusion als Chance, Potsdamer Erklärung verabschiedet am 16. Mai 2014 in Potsdam, Ausführungen und Handreichungen, als pdf unter diesem Link abrufbar: Inklusion als Chance (Stand: 5.6.2023)
  • Heidrun Harms: Mit Musik geht vieles leichter. Vorschläge für musikalisches Erleben und Gestalten mit pflegebedürftigen alten Menschen und Geistig Behinderten Menschen, Band 1, Dieter Balsies Verlag, 2008 
Barbara Tzschätzsch
Ihre Ausbildung zur Rhythmikerin absolvierte Barbara Tzschätzsch mit Studienabschluss 1978 an der damaligen Hochschule für Musik Berlin. Methodisch-didaktische Erweiterungen erwarb sie u.a. aus Fortbildungen zur Tanz- und Bewegungserziehung (Akademie Remscheid), aus dem Seminar für  Waldorfpädagogik Berlin e.V. und im Bereich Musikgeragogik (Fachhochschule Münster in Kooperation mit Landesmusikakademie Berlin), mit dem Musizieren an der Kirchenorgel und später am Schlagzeug ging sie instrumentalen Neigungen nach. 

Barbara Tzschätzsch war Leiterin der Fachgruppe EMP und erweiterte über 40 Jahre hinweg kontinuierlich das musikalische Lehrspektrum an der Leo Kestenberg Musikschule Tempelhof-Schöneberg von Berlin. Sie initiierte verschiedene Unterrichtsmodelle für alle Altersstufen, z.B. Eltern-Kind-Kurse, Teamarbeit im Instrumentenkarussell und die Einrichtung von Kinder-Bands als Schulkooperation. Ihre Erfahrungen beruhen auf Rhythmikunterricht mit Klein- und Großgruppen in Musikschulen, Kitas, Schulen und Flüchtlingsheimen, auch Rhythmik als Ergänzungsfach für Instrumentalschüler_innen, Studienvorbereitung im Fach Rhythmik, Fortbildungen für Erzieher_innen und Unterricht mit alten und älteren Menschen. Die Präsentation von Ergebnissen bei öffentlichen Veranstaltungen ist stets Teil der Musikschularbeit. 

Die Rhythmik betrachtet Barbara Tzschätzsch als eine Einladung in musikalische Erlebnisräume, die sich voraussetzungslos und inklusiv allen Menschen öffnen können. In der Musikgeragogik sucht sie mit fundierten Kenntnissen nach musikalisch-rhythmischen Anregungen für lebenslanges Lernen. 

Berlin, 09.06.2023

Zuletzt geändert: Freitag, 13. September 2024, 20:17