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1. Was ist die Bioökonomie?

Website: Hamburg Open Online University
Kurs: Verfahrenstechnik für die Bioökonomie
Buch: 1. Was ist die Bioökonomie?
Gedruckt von: Gast
Datum: Samstag, 23. November 2024, 09:21

Beschreibung

In diesem Buch finden sich alle grundlegenden Infos zur Bioökonomie.

1. Was ist die Bioökonomie?

 

Das solltest Du wissen:

 

  • Die Bioökonomie umfasst die Wirtschaftssektoren, die biobasierte Rohstoffe produzieren, einsetzen oder weiterverarbeiten 
  • Der Begriff Bioökonomie ist aus einem politischen Programm zur Förderung von Innovationen bei der industriellen Verwendung erneuerbarer Ressourcen hervorgegangen
  • 17 Staaten haben eine eigene Bioökonomiestrategie
 

Die Bioökonomie

Die Bioökonomie umfasst die Sektoren der Primärproduktion (Land- und Forstwirtschaft, Fischerei) sowie die Industrien, die biobasierte Rohstoffe einsetzen oder weiterverarbeiten, wie die Zellstoff- und Papierindustrie, Lebensmittelindustrie, holzverarbeitende Industrie, chemische und pharmazeutische Industrie, Biotechnologie oder Teile der Energiewirtschaft. In einer überarbeiten Fassung der Bioökonomiestrategie von 2018 werden nun auch Dienstleistungen, die biologische Ressourcen und Prozesse einsetzen, zur Bioökonomie hinzugezählt (z.B. Tourismus, Transport oder Architektur).  

Die fünf Ziele der Bioökonomie (siehe auch Abbildung unten) sind: 

  •  Gewährleistung der Nahrungsmittel- und Ernährungssicherheit 
  •  nachhaltige Bewirtschaftung natürlicher Ressourcen
  •  Reduzierung der Abhängigkeit von nicht erneuerbaren und nicht
  • nachhaltigen – heimischen oder nicht heimischen – Ressourcen 
  •  Klimaschutz und Anpassung an den Klimawandel 
  •  Schaffung von Arbeitsplätzen und Erhalt der europäischen
    Wettbewerbsfähigkeit 
 

Das Konzept der Bioökonomie wird auch im Kontext des gesellschaftlichen Wandels hin zu einer postindustriellen Gesellschaft gesehen.  Der Wandel von einer fossil-basierten Wirtschaft hin zu einer biobasierten Wirtschaft steht dabei im Vordergrund. Es geht um die optimale Nutzung nachwachsender Rohstoffe durch die Minimierung von Abfällen und Verlusten, aber auch um die Erweiterung der Rohstoffbasis, indem bisher nicht genutzte Ressourcen, wie z.B. Abfälle und Reststoffe erschlossen werden.  Die Bioökonomie folgt dabei auch dem Ansatz einer Kreislaufwirtschaft mit quasi unendlicher Ressourcenverfügbarkeit. In Realität gibt es allerdings durchaus natürliche Grenzen, weil z.B. Land- und Wasserflächen sowie Süßwasserressourcen nicht unendlich zur Verfügung stehen.

Bedingungen für die Entwicklung der Bioökonomie sind:

  • natürliche Ressourcen
  • Arbeitsressourcen
  • Wissensressourcen
  • Kapitalressourcen
  • Infrastruktur

Das hier bereitgestellte Lernmaterial konzentriert sich vor allem auf die natürlichen Ressourcen, das Wissen und zum Teil auf die notwendige Infrastruktur der Bioökonomie.
 
Tortendiagramm mit Zielen der Bioökonomie
Ziele der Bioökonomie von Anne Rödel (CC BY-SA)

 

 

1.1 Entwicklung des Begriffs Bioökonomie

 
Laut Birner (2018) kann der Ursprung des Begriffs bis in die späten 1960er Jahre zurückverfolgt werden. Bei Birner (2018) findet sich außerdem ein schöner Überblick der Geschichte des Begriffs und Konzeptes der Bioökonomie.
 

Die Ursprünge

Oft wird der Ursprung des Begriffs dem rumänischen Mathematiker und Wirtschaftswissenschaftler Nicholas Georgescu-Roegen zugeschrieben, der Mitte der 1970er-Jahre das Konzept einer Bioökonomie (Bioeconomics) beschrieb. In seinem fast schon philosophischen Aufsatz von 1977 (siehe Literaturübersicht) analysiert er das sozio-ökonomische System der westlichen Welt, deren Verhältnis zur Nutzung natürlicher Ressourcen und den Zusammenhang mit der Armut in weniger entwickelten Ländern. Er macht darauf aufmerksam, dass biologische Ressourcen als Grundlage für wirtschaftliche Tätigkeiten beschränkt sind und im Gegensatz zum klassischen ökonomischen Ansatz nicht gleich verteilt und verfügbar sind.
 
Ausschnitt des Artikels von Georgescu-Roegen (1977) über Bioökonomie
Ausschnitt des Artikels von Georgescu-Roegen (1977) von Anne Rödl (CC BY-SA)


Der Artikel ist stark von den Eindrücken der Ölpreiskrise in den 1970er-Jahren geprägt und wies schon damals darauf hin, dass die Menschheit die natürliche Tragfähigkeit der Erde respektieren muss, natürliche Ressourcen nicht unendlich verfügbar sind und das Paradigma des Wachstums nicht weiter vertreten werden sollte. Das war zu dieser Zeit ein unkonventioneller Ansatz, denn es herrschte seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs ein Fortschritts- und Technikglaube, der der Menschheit ein Gefühl von Allmächtigkeit vermittelte. Die berühmte Veröffentlichung von Meadows et al. “The limits to growth” im Jahr 1972 markiert einen Wendepunkt, seit dem die Endlichkeit natürlicher Ressourcen mehr und mehr Beachtung gefunden hat. Vieles in dem Aufsatz von Georgescu-Roegen (1977) wirkt auch aus heutiger Perspektive noch sehr aktuell.    
 
 

Bedeutung für die EU-Politik

In den frühen 2000er-Jahren wurde das Thema Bioökonomie von der EU-Kommission auf die politische Agenda gesetzt (Strategy on Biotechnology 2002). Damals lag der Fokus aber noch mehr auf der Biotechnologie als einer „Zukunftstechnologie“ und nicht unbedingt auf der Erreichung von diversen Umweltzielen.  Erst später entwickelte sich das Konzept zu einem Ansatz zur Lösung vielfältiger zukünftiger Herausforderungen, wie z.B. Bevölkerungswachstum, Erschöpfung fossiler Ressourcen oder Umweltverschmutzung. Im 7. Forschungsrahmenprogramm wurden Fördergelder eingestellt, um die Grundlagen für eine Bioökonomie auf Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse in verschiedenen Disziplinen (Land- und Forstwirtschaft, Energieerzeugung, Chemie und Biotechnologien) zu schaffen.
Neben den EU-Mitgliedstaaten entwickelten auch andere Länder in den folgenden Jahren ihre eigenen Bioökonomie-Strategien.
 
In den Anfangsjahren dominierte vor allem die Vermeidung des Klimawandels durch Substitution fossiler Brennstoffe das Engagement im Bereich Bioökonomie. Zunehmend wurden aber immer wieder Bedenken über die Flächenkonkurrenz zur Nahrungsmittelproduktion und andere Umweltauswirkungen einer verstärkten Biomassenutzung geäußert. Somit konzentrierte sich die Forschung und Entwicklung seitdem vor allem auf die Erschließung neuer Biomasse-Quellen aus Nebenprodukten, Abfällen oder Pflanzen, die nicht als Nahrungsmittel verwendet werden. Auch der wirtschaftliche Nutzen biotechnologischer Innovationen rückte stärker in den Vordergrund. Auf der Rio+20 UN-Versammlung 2012 wurde dann die Green Economy als Mittel zur Erreichung einer nachhaltigen Entwicklung postuliert, wobei die Bioökonomie als Teil der Green Economy begriffen wird.
 
2012 veröffentlichte auch die EU ihre Bioökonomie-Strategie. In der überarbeiteten Version der Strategie aus dem Jahr 2018 wird der Fokus stark auf Nachhaltigkeits- und Klimaziele gelenkt, die mithilfe der Bioökonomie in der EU erreicht werden sollen, sowie auf die Modernisierung und Stärkung der Industrie.  In diesem Sinne, wird die Bioökonomie mehr als ein Instrument zur Erreichung verschiedener Ziele der EU-Politik (z.B. Green Deal, Forst- und Agrarpolitik, Aktionsplan Kreislaufwirtschaft) angesehen.
 
Laut EU Bioökonomie Monitoring Dashboard trugen die Sektoren der Bioökonomie 657 Mrd. EUR zur Wertschöpfung im Jahr 2019 bei. Das entsprach 4,7 % der europäischen Wertschöpfung.
 
Ein aktueller Bericht über den Stand und die künftige Entwicklung der europäischen Bioökonomiepolitik kann hier abgerufen werden. 
Titelblatt der überarbeiteten EU Bioökonomie-Strategie
Titelblatt der überarbeiteten EU Bioökonomie-Strategie von Anne Rödel (CC BY-SA)

1.2 Blick über den Tellerrand


Die Wissenschaftsjahre 2020 und 2021 in Deutschland standen unter dem Motto “Bioökonomie”. Die Internetseite bietet unter anderem einen Überblick über die vielfältigen Themenfelder der Bioökonomie.

Eine kleinen Eindruck von innovativen biobasierten Produkten bietet diese Broschüre aus dem europäischen Bloom Projekt (auf Englisch): 

Wollen Sie Ihren Unterricht mit spannenden Themen aus der Bioökonomie bereichern? Auf der Webseite des EU-Projektes BLOOM finden Sie zahlreiche Ideen und Anleitungen in verschiedenen Sprachen:

Analyse und Gedanken für eine ökologische Ökonomie aus dem Jahr 1988 (Juan Martinez-Alier und Frank Beckenbach: Beiträge zur ökologischen Ökonomie, Schriftenreihe des IÖW 19/88): 

Auch kritische Stimmen sollten nicht vernachlässigt werden. Bioökonomie ist nicht per se nachhaltig und umweltfreundlich:


Eine Studie des Forschungsinstituts der Europäischen Kommission (JRC) untersucht die regionale Entwicklung der Bioökonomie-Strategien innerhalb der Europäischen Union im Jahr 2022:
https://publications.jrc.ec.europa.eu/repository/handle/JRC128740

Überblick über Bioökonomiestrategien weltweit
 https://biooekonomie.de/en/topics/in-depth-reports-worldwide

Bioökonomie Monitoring System der EU:

Verschiedene Grafiken geben anhand verschiedener Kriterien Informationen über die Entwicklung der Bioökonomie https://knowledge4policy.ec.europa.eu/bioeconomy/monitoring_en 


1.3 Verfahren der Bioökonomie

In der Bioökonomie werden eine Vielzahl an unterschiedlichen Verfahren eingesetzt, mit dem Ziel einheitliche Produkte aus einem biologischen, oft uneinheitlichen Rohstoffstrom zu generieren. Unter anderem werden biologische, chemische, mechanische und thermische Verfahren eingesetzt, um die Biomasse entweder in Zwischenprodukte oder in Endprodukte zu überführen. Oft kommt auch eine Kombination von unterschiedlichen Verfahren zum Einsatz.

In den folgenden Kapiteln werden verschiedene Verfahren genauer vorgestellt. Dazu zählt/zählen u. a.:

  • Das biologische Verfahren der anaeroben Fermentation, bei dem verschiedene Mikroorganismen die Biomasse über diverse Zwischenprodukte zu Biogas wandeln,
  • das chemische Verfahren der Herstellung von Viskosefasern, wobei Zellstoff zunächst in Natronlauge aufgelöst und anschließend in einem sauren Fällbad zu Fasern „gesponnen“ wird,
  • verschiedene mechanische Verfahren (grundsätzlich können z. B. alle Ernteverfahren zu den mechanischen Verfahren gezählt werden); insbesondere in dem Kapitel Bau und Konstruktion werden verschiedene Möglichkeiten erörtert, mechanisch vorbehandeltes Holz (z. B. in Form von Balken) als Bauholz zu nutzen,
  • thermische Verfahren, bei denen die Biomasse unter Temperatureinwirkungen behandelt wird; dabei können aus Biomasse beispielweise Gase, Öle oder Feststoffe erzeugt werden.

Je nach Prozess und gewünschtem Produkt werden also verschiedene Verfahren eingesetzt und kombiniert. In den folgenden Kapiteln lernen Sie einzelne Verfahren und Produkte der Bioökonomie genauer kennen.