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Zur Ideengeschichte der Gemeinwohl-Ökonomie

Site: Hamburg Open Online University
Course: Einführung in die Gemeinwohl-Ökonomie
Book: Zur Ideengeschichte der Gemeinwohl-Ökonomie
Printed by: Gast
Date: Sunday, 5 October 2025, 10:21 PM

Description

Die Gemeinwohl-Ökonomie wurde Anfang der 2010er Jahre von Christian Felber initiiert, um eine ethischere Wirtschaftsform zu fördern. Sie knüpft an ältere soziale und ökologische Bewegungen an, die Wirtschaft und Gesellschaft nachhaltiger gestalten wollen. Erste Ideen wurden bereits von Aristoteles beschrieben.

Aber lies hier weiter, um mehr zu erfahren!

1. Ursprüngliche Ideen zur Gemeinwohl-Ökonomie

Schon Aristoteles hat zwischen zwei Formen, Wirtschaft zu denken und zu praktizieren, unterschieden (Felber 2018: 27): Die oikonomía (altgriechisch für Haushal­tung, die gute Haushaltsführung, oikos = Haus) hat das gute Leben für alle zum Ziel, wobei Geld hier ausdrücklich nur als Mittel zum Zweck gesehen wird. Chrematis­tike (altgriechisch für Kunst, Vermögen zu erwerben, chrema = Geld) hingegen stellt eine Wirtschaftsform dar, welche Gelderwerb und -vermehrung als Selbstzweck hat. Oikonomía könnte nach dieser Definition als „Gemeinwohl“ übersetzt werden, da das Gemeinwohl laut der vorangegangenen Definition inhärent in dem Begriff enthalten ist.

Für Thomas von Aquin war das bonum commune (Gemeinwohl), wie alles ande­re, auch ausgerichtet auf das summum bonum (das höchste Gut). Das Gemeinwohl wird hier als Vorstufe und Teilhabe an der göttlichen Ordnung verstanden. In der griechischen Philosophie der Antike gibt es mit dem Kosmos – und später bis ins Mittelalter hinein mit Gott – ein für damalige Vorstellungen unbezweifelbares Ord­nungssystem bzw. eine Ordnungsmacht, aus der ein klares Verständnis des Kom­positums Gemeinwohl ableitbar war: Bei Aristoteles war es das politisch gute bzw. gerechte Wohlergehen der polis-Gemeinschaft. Bei Thomas von Aquin war es die Teilhabe bzw. der Vorschein auf die jenseitig zu erlangende, ewige Glückseligkeit, welche selbstverständlich für die Gemeinschaft der Gläubigen bzw. die Gemeinde galt. Mit dem jeweiligen Ordnungsprinzip, Gott oder Kosmos, standen die Ziele fest, auf die sich das gute wie das rechtschaffene gläubige Leben und das Wirtschaften auszurichten hatten.

2. Heutige Betrachtungen

Die Idee des Gemeinwohls findet sich auch heute noch in einschlägigen Verfassungs­texten der Länder wie des Bundes wieder (vgl. Felber 2018). Da Kosmos und Gott als allgemeingültige Garantiemächte weggefallen sind, konstatierte der US-ameri­kanische Philosoph John Rawls in den 1990er-Jahren für westliche Gesellschaften das „Faktum des Pluralismus“, das Ausdruck einer Vielzahl von z. T. unvereinbaren ethischen Überzeugungen oder metaphysischer Weltbilder ist (vgl. Heidbrink et al. 2018). Das Faktum des Pluralismus konnte erst durch den besonderen Schutz der Freiheitsrechte des Individuums bzw. der Menschenrechte etabliert werden, wie sie zuerst in der Französischen Revolution erkämpft wurden und fortan Eingang in die demokratische Verfassungsgeschichte gefunden haben.

Pluralismus und die mit ihm einhergehenden Individualrechte werden vom deutschen Rechtsstaat anerkannt. Da der Begriff des Gemeinwohls zu den Individualrechten in Opposition steht, kommt er in Verfassungstexten nur in Form eines sogenannten „unbestimmten Rechtsbegriffs“ vor, zu dessen Bestimmung es immer eines kon­kreten Einzelfalls bedarf. Bei der im Einzelfall vorzunehmenden inhaltlichen Be­stimmung orientiert sich die Rechtsprechung an den Gemeinwohlwerten des Grund­gesetzes, wie etwa Menschenwürde, Solidarität, soziale Gerechtigkeit, ökologische Nachhaltigkeit, Frieden, Freiheit, Rechtssicherheit und Wohlstand. Angesichts der menschenrechtlichen Garantie individueller Freiheitsrechte sowie des Werteplura­lismus ist es unter Modernebedingungen also nahezu unmöglich, sich demokratisch auf einen substanziell bestimmten Begriff des Gemeinwohls wie auf jedes andere verbindliche Ziel des guten Lebens zu einigen.

2.1. Position der Bundeszentrale für Politische Bildung

Die deutsche Bundeszentrale für politische Bildung begreift Gemeinwohl als „das allgemeine Wohl betreffend“, dass in pluralistischen, offenen Gesellschaften immer von den Interessen und Zielen derjenigen abhängig ist, die sich auf das Gemeinwohl berufen. Obwohl es allgemein gesehen das gemeinsame Gute zweifellos gibt, bleibt strittig, a) ob sich das jeweils konkrete Gemeinwohl lediglich als Summe der indi­viduellen Interessen ergibt oder ob es eine eigene spezifische Qualität hat und b) ob erst rückblickend (ex post) oder bereits vorher (ex ante) festgestellt werden kann, ob ein konkretes Vorhaben dem Gemeinwohl tatsächlich dient. Das Gemeinwohl ex ante zu bestimmen, kann zur Bevormundung freier Menschen führen. Es stellt sich stets die Frage, ob politische Maßnahmen letztlich wirklich dem Gemeinwohl dienen (vgl. Schubert, Klein 2018).

Ein Problem des Gemeinwohls oder der „gesellschaftlichen Wohlfahrt“ ist seine mangelnde Operationalisierbarkeit (vgl. Wirtschaftslexikon24.com 2021). Der Ge­meinwohlbegriff ist umso mehr umstritten, je weniger er Leerformelcharakter be­sitzt, d. h. je weniger er als Beschwichtigungsformel bei der Durchsetzung spezieller Interessen eingesetzt werden kann, je schärfer er also inhaltlich umrissen wird. Im Ringen zwischen Kollektiv- und Individualprinzip begreift das Kollektivprinzip Ge­sellschaften als organische Gebilde und erkennt dem Kollektiv einen Selbstzweck mit mehr oder weniger erkennbaren Normen für politisches und somit auch wirt­schaftspolitisches Handeln zu.

2.2. Das Individualprinzip

Nach dem Individualprinzip wird das Gemeinwohl dagegen durch die Bedürfnisse (Glücks- oder Nutzenvorstellungen) der Individuen bestimmt, d. h. Kollektive sind nur Mittel, um individuelle Zwecke zu fördern. Beide Prinzipien können wegen ih­res normativen Charakters durch Erfahrung weder bestätigt noch widerlegt werden. Äußerst problematisch ist hingegen die Vorstellung, Kollektive als solche könnten Bedürfnisse empfinden. Das Gemeinwohl kann nicht als etwas absolut Unverän­derliches angesehen werden, sondern muss im gesellschaftlichen bzw. politischen Prozess immer wieder neu formuliert bzw. konkretisiert werden. Zumindest bestimmte Verfahrensregeln müssen existieren, nach denen ein neues „Ergebnis“ bzw. eine Änderung des Systems von Verhaltensregeln beschlossen werden kann (Abstimmungsverfahren). In einer pluralistischen Gesellschaft befindet nicht nur der Staat über das Gemeinwohl, sondern auch eine Vielzahl von gesellschaftlichen Gruppen versucht hierauf Einfluss zu nehmen.

3. Gesellschaftliche und politische Richtungen

Unter Berufung auf das Gemeinwohl kann Herrschaft ausgeübt und Bürgerinnen und Bürger mit abweichenden Vorstellungen können ausgegrenzt werden. Es können soziale Konflikte zwischen Randgruppen und der Bürgermehrheit entstehen. Sind Interessen nicht ausreichend organisiert, ist ihr Einfluss auf den Willensbildungs­prozess meist nur gering. Es kommt mithin mehr und mehr auf die Art und Weise an, wie politische Entscheidungsprozesse verlaufen. Der Gemeinwohlbegriff wird in vielen gesellschaftlichen und politischen Richtungen interpretiert und ggf. auch instrumentalisiert.

3.1. Katholische Soziallehre

Für die katholische Soziallehre ist das Gemeinwohl – basierend auf dem Rechts-Prinzip der Subsidiarität und auf einer ständigen Wechselbeziehung zum Einzelwohl – ein notwendiges Gut der Gemeinschaft, dass über allen Interessengegensätzen und Sozialkonflikten steht.

3.2. Liberalismus

Der Liberalismus sieht in der Realisierung individueller Freiheit den besten Beitrag zum Gemeinwohl, der sich als das größtmögliche Glück einer größtmöglichen Zahl von Menschen darstellt. Eigennutz und Gemeinwohl schließen sich hier nicht aus, vielmehr führt die Verfolgung der eigenen Interessen durch die „unsichtbare Hand“ letztlich auch zum Gemeinwohl. Adam Smith (1723 – 1790) begründete die Theorie der „unsichtbaren Hand“. Dieser Begriff bezeichnet die Selbststeuerung der Wirt­schaft von Angebot und Nachfrage. Dadurch entstehe eine ordnende und regulie­rende Kraft, die den Effekt hätte, dass das egoistische Verhalten eines Einzelnen zu einer größtmöglichen wirtschaftlichen Bedürfnisbefriedigung der Gesellschaft führt (vgl. Steindl 2015: 107). Laut Adam Smith wird der gesamtwirtschaftliche Nutzen durch die individuelle Nutzenmaximierung hervorgebracht.

Nach liberalen Auffassungen (Locke) stellt sich das Gemeinwohl erst im Vollzug der politischen Willensbildung heraus (Konkurrenztheorie) (o. A. 2021). Das Gemeinwohl verlangt daher nach einer politischen Mitwirkung in einer staatlichen Ge­meinschaft. Während geschlossene Gesellschaften auf einer für alle verbindlichen Weltanschauung beruhen, ist in offenen Gesellschaften das Gemeinwohl also erst Ergebnis eines dynamischen und pluralen Willensbildungsprozesses: Bestehendes wird überprüft und Neues kann sich entfalten.

3.3. Sozialismus

Hingegen strebte der Sozialismus durch solidarische Verwirklichung von sozialer Gerechtigkeit zum Gemeinwohl, wozu es des Klassenkampfes und der Abschaffung des Privateigentums bedurfte, um eine klassenlose Gesellschaft zu schaffen.

Besonders vor dem Hintergrund der Globalisierung der Wirtschaft und dem Struktur- und Wertewandel wird immer wieder mehr Gemeinwohl eingefordert und der Sozialen Marktwirtschaft bzw. den Marktmechanismen die Fähigkeit ab­gesprochen, dem Gemeinwohl ausreichend zu dienen. Es wird die Stärkung der Zivilgesellschaft gefordert, d. h. die Mitglieder der Gesellschaft sollen sich verstärkt dem Nächsten zuwenden und Mitverantwortung durch Mitgestaltung übernehmen. Die Umsetzung des Gemeinwohlgedankens ist längst nicht mehr nur Aufgabe des Staates, sondern in wachsendem Maße Ziel nichtstaatlicher Organisationen im intermediären Bereich geworden. Auch auf kommunaler Ebene wird um die Bürgerinnen und Bürger und ihr freies Engagement mehr und mehr geworben. Die finanzielle Krise des Sozialstaates führte zu einer Neudefinition von Sozialpolitik, und dies be­stimmte ebenso das Subsidiaritätsprinzip neu.